Auf einen Blick
Der Weg zum nächsten High führt in eine Telefonzelle im Herzen des Kleinbasler Matthäusquartiers. Eine Frau rollt auf einem Trottinett heran, lehnt das Gefährt ans Gebüsch, kramt einen Zettel aus der Hosentasche und tippt hastig eine Nummer ins rote Telefon.
Im Sommer 2023 blickte die Schweiz in den Abgrund einer neuen Drogenepidemie. Oder wie es der «Tages-Anzeiger» formulierte: «Ein Gespenst kehrt zurück». In Chur, Zürich, Genf oder Basel führte der Konsum von Crack oder Freebase zu offenen Drogenszenen. Und wo Menschen in der Öffentlichkeit in Gruppen beisammenstanden, um Drogen zu rauchen, da waren die Platzspitz-Analogien nicht weit.
Jetzt, ein Jahr später, scheint sich die Lage beruhigt zu haben. Die Schlagzeilen sind kleiner, der öffentliche Aufruhr bleibt aus. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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So viel vorweg: Die Beschaffung des Kokains auf der Strasse bleibt eine hektische Sache, das kann man im Kleinbasel beobachten. Die Telefonzellen gehören einer Plakatgesellschaft und werden, wenn sie kaputtgehen, nicht mehr ersetzt. Viele Telefone aber funktionieren noch. Anrufe im Inland sind gratis. Und der Draht glüht.
Im Kleinbasel telefonieren dort unter anderem Menschen, die an einer Drogensucht leiden, mit ihren Dealern. «Hallo, wo bist du jetzt? Bleib dort, ich komme!», tönt es aus der Zelle aufs Trottoir. Dann fischt die Frau das Trottinett aus dem Gebüsch und fährt davon. Ein Mann betritt die Kabine. Tippt. Telefoniert kurz. Verschwindet.
Nebenan hält der Bus. Menschen steigen ein, andere aus. Die gläserne Telefonzelle steht wie eine Chiffre am Wegesrand. Vorhanden. Trotzdem unsichtbar.
Kurz vor Platzspitz
Unauffällig ist auch die Kontakt- und Anlaufstelle (K+A) am anderen Ende der Stadt. Gewerbe und Industrie prägen die Gegend, doch der Hauptbahnhof ist nah. Das ist wichtig, wie Erfahrungen zeigen. Wenn die Anreisen zu beschwerlich sind, bleiben die Suchtbetroffenen weg.
In Zürich, Genf, Basel und Olten wurden die Konsumräume, im Volksmund auch «Fixerstübli» genannt, seit dem vergangenen Sommer vergrössert oder – wie in Chur – neu eröffnet. Die Öffnungszeiten wurden angepasst, mit dem Ziel, die Leute von der Strasse zu holen.
Substanz Nummer eins: Crack aus der Pfeife
Horst Bühlmann, der Leiter der K+A Dreispitz, ist ein ruhiger Typ. Er öffnet ein paar Schubladen, zeigt die Spritzen und Filter und Metallpfännchen, die hier gratis an Suchtbetroffene abgegeben werden, das ganze kleinteilige Schadenminderungsbesteck. Dann öffnet Bühlmann die Tür zu den Konsumräumen.
An den Wänden hängen Gehörschutze. Manche Besucher, 80 Prozent von ihnen sind Männer, ziehen sie an, um in Ruhe zu rauchen. Die Stimmung und das Verhalten nach dem Crack-Konsum, das wird in den vier Wänden dieses Konsumraums deutlich, sind auch für Betroffene laut.
«Einen deutlichen Anstieg beobachten wir in den vergangenen Jahren beim Rauchen», sagt Bühlmann. In die Lungen gelangt Kokain, das mit Natriumhydrogencarbonat oder Ammoniak zu kleinen Steinen verkocht und dann als Crack oder Freebase geraucht wird.
Der Konsumwandel, der in sämtlichen Schweizer Städten zu beobachten ist, verändert die Arbeit der K+A-Mitarbeitenden sehr. Denn zu den regelmässigen Nebenwirkungen von Crack gehören Gedächtnislücken, manchmal Wahnzustände oder Paranoia. Dann suchen sie beispielsweise hektisch in den Taschen nach mehr Stoff. Aber da ist nichts.
Die Konsumentinnen sind dann zwar da, also vor Ort. Aber für Bühlmann und die Kolleginnen kaum erreichbar. «Das braucht dann sehr viel Geduld», sagt Bühlmann.
Was sich zudem als hilfreich erweisen kann, sind fünf dünne Nadeln in der Ohrmuschel. Eine Akupunktur-Methode nach dem sogenannten Nada-Protokoll, um den Suchtdruck vorübergehend zu mindern. 20 bis 30 Minuten dauert die Behandlung, die in der K+A angeboten wird und die ein kleiner Teil der Besucher auch in Anspruch nimmt.
Immerhin, sagt Bühlmann. «Jede Pause ist wertvoll.»
Spritzen einsammeln, Hecken pflegen
Von den Auswirkungen, den lauten, teilweise aggressiven Versammlungen von Suchtbetroffenen in der Öffentlichkeit, fühlten sich manche Kleinbasler im Sommer 2023 zunehmend bedrängt: Es gab Petitionen und runde Tische. Laut der «Basler Zeitung» gar bürgerwehrähnliche Teenagergruppen, die sich auf dem Matthäusplatz mit Süchtigen anlegten. Die Politik reagierte spät.
Dann, in vielen Städten war bereits der nächste Frühling angebrochen, kamen die Massnahmen.
Der Ausbau der Kontakt- und Anlaufstellen war der Anfang. Dann kam mehr Personal. Zusätzliche Sozialarbeiter und Ranger, die auf Suchterkrankte zugehen und sie, wenn die Betroffenen das wünschen, zum Arzt begleiten. Auf der Dreirosenanlage, einem Kleinbasler Hotspot, wurden Kameras und Scheinwerfer installiert. Die Stadtreinigung pflegt Büsche und Hecken in Parks akkurat, ein Spezialdienst, das «Sprützewäspi», räumt frühmorgens die Konsumabfälle weg.
Die Polizei führt zudem wöchentlich gezielte und grossangelegte Kontrollen durch. Allein im März und im April wurden 1300 Personen kontrolliert, 112 wurden verhaftet. Die Repression nahm zu. Dealer sind seither nervöser.
Die Basler Leiterin der Abteilung Sucht, Regine Steinauer, präsentierte die Basler Massnahmen an einem runden Tisch unter der Leitung des Bundesamts für Gesundheit. Städte, Kantone und Fachleute treffen sich dort regelmässig, um voneinander zu lernen. Der nächste Zwischenstand wird Ende Oktober erwartet.
Tagsüber Entspannung, nachts Krawall
Käthi Grossenbacher, eine Anwohnerin am Kleinbasler Matthäusplatz, bleibt skeptisch. «Es stimmt, tagsüber hat sich die Lage entspannt. Aber in der Nacht, da ist vor unseren Türen weiterhin der Teufel los», erzählt sie. In den Augen Grossenbachers ist es auch einem Zufall geschuldet, dass sich das Drama des vergangenen Sommers nicht wiederholte oder gar zuspitzte: «Bis Anfang Juli hat es oft geregnet. Da bleibt auch die Szene lieber drinnen.» Als es warm wurde, da war es dann mit der Nachtruhe wieder vorbei.
Teile der Nachbarschaft haben sich in der Zwischenzeit zusammengeschlossen in einem Chat. Wenn jemand die Polizei ruft, steht das dort drin. «Polizei ist alarmiert.» Damit nicht alle telefonieren müssen.
Grossenbacher wünscht sich von den Behörden vor allem dies: mehr Unterstützung in der Nacht. «Ein Bus, in dem die Leute schlafen können, vielleicht», sagt sie. Andere schlugen vor, am Stadtrand eine Art Toleranzzone für Dealer einzurichten.
Das Drogenproblem im Quartier, das wird in Gesprächen mit Anwohnern und Suchtexpertinnen klar, spielt auf der untersten Stufe des Prekariats. Und dort, auch das gehört zur Wahrheit, kommt eine Krise selten allein. Dominique Wick, eine Basler Mittlerin, sagt: «Die Wohnungsnot trifft sozial benachteiligte Menschen besonders schwer.»
Und dann gibt es da noch ein Missverständnis. Oder wie Wick es sagt: «Auch Suchtbetroffene haben ein Recht, den öffentlichen Raum zu nutzen. Sie sind Teil dieser Gesellschaft.»
Kokainabgabe: Frühestens 2025
Basler Fachleute sind sich einig: Das Vier-Säulen-Modell trägt diese Krise. Eine offene Drogenszene ist in Basel nicht eingetreten. Vor dem Hintergrund des Alarmsommers 2023 ist das ein kleiner Erfolg. Doch die Lage bleibt fragil und kann, wenn ein nächster heisser Sommer anbricht, rasch wieder kippen. Auch darum wird im Hintergrund an neuen Lösungen gearbeitet.
Eine städteübergreifende Expertengruppe berät derzeit über eine medizinisch überwachte Abgabe von Kokain. Das wäre weltweit einzigartig und würde den Beschaffungsdruck auf der Strasse reduzieren, schreibt die Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin in einem Positionspapier. Die Abgabe kommt frühestens 2025. In Brasilien testen Forscherinnen und Forscher derweil eine Impfung gegen Kokain, berichtet die «Zeit». Sie soll die Aufnahme des Wirkstoffs ins Blut bremsen können.
Versuche, mit Suchtbetroffenen ins Gespräch zu kommen, bleiben kompliziert. «Keine Zeit», heisst es vor der Telefonzelle im Kleinbasel immer wieder. Da ist Misstrauen. Tosca, die anders heisst, bleibt dann doch kurz stehen und sagt, für sie habe sich seit dem vergangenen Sommer nicht viel geändert. «Für uns, die wir betteln müssen, ist jeder Tag gleich. Die gleichen Gesichter, der gleiche Stress.»
Ob sie denkt, dass eine staatliche Abgabe von Kokain helfe? Tosca zögert. «Ich denke schon», sagt sie dann. «Ich hätte dann mehr Zeit. Und ein Ziel.»