Die Schweizer Impfkampagne stockt. Nur 60 Prozent der Bevölkerung sind vollständig immunisiert – eine Quote, die seit Wochen kaum noch wächst. Bewundernd bis neidisch blicken Bundesrat und Behörden nach Dänemark, das eine märchenhafte Impfquote von 80 Prozent aufweist, und fragen sich: Wie sollen wir das noch schaffen? Im Bundeshaus begann wieder das Pröbeln zwischen Zückerchen und Zwang. Als Ergebnis verkündete Alain Berset seine grosse Impfoffensive.
Ein dicker Strauss von Massnahmen soll es nun richten. Zum Beispiel 50-Franken-Gutscheine für jene, die das zögernde Grosi oder den kritischen Onkel zur Impfung überreden. Und ein Heer von 1700 Impfberatern: Die sollen von Tür zu Tür tingeln, um das Volk doch noch zu überzeugen, wie SonntagsBlick vor einer Woche berichtete.
Impfprämie Nein, Impfwoche Ja
Allerdings wurde das Massnahmen-Sträusschen diese Woche von den Kantonen arg zerpflückt. Ob Impfprämie oder Impfberater: Von Genf bis Frauenfeld war Ablehnung zu vernehmen.
Immerhin vermochten sich die Kantonsregierungen für eine «national orchestrierte Impfwoche» erwärmen. Auch zusätzliche Impfbusse stiessen auf Wohlwollen – bloss möchten die Kantone dafür kein zusätzliches Personal abstellen.
Laut Tobias Bär, Sprecher der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK), gibt es deshalb in Bern Überlegungen, den Kantonen Impftrucks samt Equipe zu offerieren, «all inclusive» sozusagen.
Im Bundeshaus ist es ansonsten auffällig still. Vor allem der 50-Franken-Gutschein hat einen schweren Stand. Das Bundesamt für Gesundheit verweist auf Mittwoch, an dem sich der Bundesrat auf seinen schwierigen Weg machen will.
Für dieses letzte Aufgebot kommt offenbar allerhand infrage – sogar die Armee, wie der Blick berichtete. Vielleicht tourt demnächst HD-Soldat Läppli im Impfbus durchs Land, um Herrn und Frau Schweizer zu immunisieren.
Kantonsärzte ratlos
Je weiter weg vom Bundeshaus, desto pragmatischer tönen die Vorstellungen der Gesundheitsvertreter: «Übung halt! Wir haben alles gemacht, was ging», sagt Markus Schmidli, Kantonsarzt von Appenzell Innerrhoden. Wer wollte, sei geimpft. «Die anderen wollen nicht.»
Schmidli weist darauf hin, kürzlich nochmals Mann und Maus aufgeboten zu haben. Auch die Hausärzte seien mit an Bord gewesen. Das ernüchternde Resultat: In zwei Stunden liessen sich gerade mal vier Leute impfen, vergangenen Samstag waren es während des ganzen Tages knapp 20 Seelen. Schmidli: «Der Bundesrat kann träumen, es nützt nichts. Die Leute sind informiert, sie wollen einfach nicht mehr.» Was die Sache nicht angenehmer mache: «Die Leute kommen nur noch unter Zwang, weil sie wegen des Zertifikats nicht anders können.» Schmidlis Personal bekomme den Frust zu spüren.
Die Kantonsärzte tauschten sich diese Woche über die aktuelle Lage aus. Grossmehrheitlich sei eine gewisse Ratlosigkeit herauszuhören gewesen, wie SonntagsBlick berichtet wird.
Der Appenzeller Schmidli jedenfalls weist unumwunden darauf hin, er verstehe zwar «den Aktionismus aus Bern», nur gebe es «keinen gescheiten Vorschlag mehr», wie es weitergehen soll. «Die Eigenverantwortung wurde vom Bundesrat immer betont. Jetzt muss man dazu stehen, wenn die Bevölkerung eigenständig entschieden hat, sich nicht mehr impfen zu lassen.» Auch die häufig erwähnte Übersterblichkeit wegen Corona interessiere einen Teil der Bevölkerung nicht. Diese Leute meinten, sie seien gesund und bräuchten keine Impfung. «Man kann erzählen, was man will, die glauben es nicht», sagt der Kantonsarzt, nicht fatalistisch, sondern realistisch, wie er betont.
Nächste Welle droht im Herbst
Damit droht auch in diesem Herbst nach den Ferien die nächste Welle. Spitäler schlagen bereits wieder alarmistische Töne an.
Thomas Pfluger, Sprecher des Basler Uni-Spitals: «Mit einer Durchimpfung von gerade mal 60 Prozent könnte im kommenden Winter die Spitzenzahl an Hospitalisationen des Winters 2020/21 noch überschritten werden.»
Überarbeitetes Pflegepersonal
Martina Pletscher vom Uni-Spital Zürich: «Es ist schwierig, offene Stellen zu besetzen, namentlich in der Intensivpflege. Das erhöht den Druck auf die bestehen- den Teams und führt dazu, dass nicht alle Betten betrieben werden können.»
Und Christian Panzuto vom Berner Inselspital: «Auf der Intensivstation ist es bei der Pflege zu vermehrten Austritten gekommen. Dies hängt mit der anhaltenden hohen Belastung im Intensivbereich zusammen.»
Denkbar ist aber auch, dass es im Herbst nicht zu einem Anstieg der Neuinfektionen und Hospitalisierungen kommt. Dann aber muss der Bundesrat begründen, weshalb in Restaurants und Co. weiter die Zertifikatspflicht gelten soll.
Wie also weiter? Mehrere Kantone, darunter Zürich, forderten den Bund auf, endlich ein klares Impfziel auszugeben, bei dessen Erreichen sämtliche Massnahmen aufgehoben werden. Er sehe derzeit noch nicht, wo dieses liegen sollte, entgegnet GDK-Präsident Lukas Engelberger. Ihm sei kein wissenschaftlicher Konsens bekannt, ab welcher Quote die Massnahmen aufgehoben werden können. Und er warnt davor, allzu stark auf andere Staaten wie Dänemark zu schauen.
Auch der Forderung Schaffhausens, dass je nach Kanton die 2G-Regel gelten könnte, lediglich Getestete also nicht mehr von Erleichterungen profitieren dürfen, erteilte der GDK-Chef eine Abfuhr: «In der aktuellen Situation sollten meiner Meinung nach die wichtigsten Regeln schweizweit gelten, ohne gravierende kantonale Unterschiede.»
Eine Steigerung der Quote erhofft sich Engelberger durch den Einsatz des Impfstoffs von Johnson & Johnson sowie vom Umstand, dass Testzertifikate nächste Woche kostenpflichtig werden.
Impfen im Testcenter
Derweil plädiert Christoph Berger für einen unkonventionellen Ansatz: Überall, wo ein Testcenter stehe, würde er auch ein Impfangebot einrichten, so der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen. Auch Hausärzte könnten Nachmittage einführen, an denen sie impfen.
Bei Einführung dieser Impf-Giesskanne wären Streuverluste hinzunehmen: «Wenn von einer Zehnerpackung halt nur sieben oder acht Dosen verimpft wurden und der Rest weggeschmissen werden muss, dann rentiert das trotzdem», sagt Berger. Die Kantone müssten es den Hausärzten nur möglich machen, kleinere Mengen zu bestellen, also 20er- statt 400er-Chargen.
Unterstützung kommt von Lukas Engelberger: Mit Impfstoff müsse sorgfältig umgegangen werden, aber über die Frage des sogenannten Verwurfs müsse man neu nachdenken. «Es ist im Zweifel besser, einmal nicht das volle Potenzial einer Ampulle zu verimpfen, als gar nicht zu impfen und den Impfstoff am Ende wegwerfen zu müssen, weil das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist!»
Man könnte das allerdings auch aus einem anderen Blickwinkel sehen: Während erst 40 Prozent der Weltbevölkerung geimpft sind, denkt die Schweiz bereits daran, den Wirkstoff zu verschleudern.
Vielleicht liegt die Lösung aber auch ganz woanders, im helvetischen Unterbewusstsein. So schlägt Baselland eine landesweite Medienkampagne vor, um «Impfmythen» aus dem Weg zu räumen, die «die Steigerung der Impfrate behindern».
Man ahnt, was nächste Woche noch alles kommen könnte...
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