Alles begann mit einem Fetzen Stoff. Und zwei Wörtern mit Sprengkraft: «Kill Erdogan». Dieser Aufruf mit dem Zusatz «with his own weapons» (mit seinen eigenen Waffen) prangte auf einem Plakat, das Demonstranten im Frühjahr 2017 in Bern in die Höhe streckten. Daneben der Kopf des türkischen Autokraten, an seiner Schläfe eine Pistole. Was folgte, war eine diplomatische Krise zwischen der Schweiz und der Türkei. Sowie ein juristisches Hickhack, das bis heute andauert – und nun eine neue Wendung nimmt.
Rückblende auf den 18. März 2017: Wenige Stunden, nachdem in den Medien Fotos des «Kill Erdogan»-Plakats aufgetaucht waren, klingelt beim damaligen Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter das Telefon. Am Apparat: sein türkischer Amtskollege Mevlüt Cavusoglu. Er ist wütend und verlangt, dass die Schweiz die Urheber des Demo-Plakats bestraft.
Erdogan donnert gegen die Schweiz
Bei Cavusoglus Anruf bleibt es nicht. In den darauffolgenden Wochen erhöhen Erdogan und seine Getreuen ihren Druck auf den Bund. Die Schweizer Vizebotschafterin und der Botschafter werden ins türkische Aussenministerium zitiert. Und Cavusoglu kündigt an: «Wir werden die administrativen und juristischen Schritte der Schweizer Behörden genau verfolgen.»
Erdogan selbst, der zu jener Zeit gerade durchs Land tourt, um für eine Verfassungsänderung zu werben, die ihm die politische Macht allumfassend sichern soll, nutzt den Vorfall für seine Propaganda. Vor Anhängern in Istanbul donnert er gegen die Schweiz: «Vor euren Augen drohen sie dem Präsidenten eines Staates offen mit dem Tod, und ihr unterstützt sie auch noch. Schande über euch!»
Während die diplomatischen Drähte heiss laufen, eröffnet die Berner Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren wegen öffentlichen Aufrufs zu Verbrechen oder Gewalttätigkeit. Im Visier der Ermittler: Aktivisten aus dem Umfeld der mittlerweile aufgelösten Revolutionären Jugendgruppe Bern. Sie sollen für das Plakat verantwortlich sein.
Derweil lässt Ankara nicht locker. Wenige Tage nach Verfahrenseröffnung wendet sich der türkische Botschafter in Bern an die Staatsanwaltschaft. Er lässt die Ermittler wissen: «Da diese Handlung sowohl von türkischen Behörden als auch von der Öffentlichkeit genau beobachtet wird, werden wir es sehr begrüssen, wenn Sie uns mitteilen würden, wie weit diesbezüglich Vermittlungen stehen, ob die Täter schon identifiziert werden konnten und ob zurzeit jemand interniert worden ist oder nicht.»
Gute Miene beim Staatsbesuch
Es vergehen Monate. Das Verfahren zieht sich hin. Die türkische Regierung wird immer ungeduldiger. Hinter den Kulissen setzt Ankara den Bund weiter unter Druck – offenbar mit Erfolg. Aktennotizen der Staatsanwaltschaft zeigen, wie sich das Aussendepartement (EDA) mindestens drei Mal telefonisch bei den Ermittlern meldet und dabei auf den Druck aus der Türkei verweist.
In einer Aktennotiz vom 3. Juni 2019 steht: «Herr K. möchte sich erneut nach dem aktuellen Stand des Verfahrens […] erkundigen. Herr K. erklärt seine erneute Anfrage mit dem bevorstehenden Staatsbesuch von Bundesrat Ignazio Cassis.»
Herr K. ist Mitarbeiter bei der Direktion für Völkerrecht des EDA. Einen Monat nach dem Anruf reist Cassis in die Türkei, wo er den türkischen Aussenminister trifft. In Cavusoglus Residenz in Ankara sprechen die Amtskollegen über das Recht auf Meinungsfreiheit. Dabei muss Cassis wohl auch Fragen zum Stand des «Kill Erdogan»-Verfahrens beantworten. Nach dem Gespräch loben die beiden die guten gegenseitigen Beziehungen.
Und wieder vergehen Monate. Am 15.Juli 2020 ruft das EDA erneut bei der Staatsanwaltschaft an, diesmal eine Frau H. Wieder macht die Staatsanwaltschaft eine Aktennotiz: «Frau H. nimmt Bezug auf die bisherige Korrespondenz mit Herrn K. und erklärt, wonach der Druck gegenüber dem EDA bzw. der internationalen Beziehung zwischen der Schweiz und Türkei betreffend die vorliegende Angelegenheit zunehmend sei.»
Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz?
Griff das Aussendepartement mit den wiederholten Nachfragen und dem Verweis auf den Druck aus der Türkei in die Unabhängigkeit der Justiz ein? Das EDA weist das vehement von sich. «Wir haben in keiner Art und Weise Einfluss auf das Verfahren genommen geschweige denn Druck auf die Justizbehörden ausgeübt», sagt Sprecher Pierre-Alain Eltschinger. Der Bund habe sich lediglich über den Stand des Verfahrens informieren lassen. Selbstverständlich halte man sich stets an den Grundsatz der Gewaltenteilung.
Auch die Berner Staatsanwaltschaft hält die Unabhängigkeit hoch. Man habe dem EDA lediglich wiederholt mitgeteilt, das Verfahren sei noch hängig – laut Sprecher Christof Scheurer eine «Standard-Auskunft».
Mitte März 2021 verurteilte die Staatsanwaltschaft schliesslich vier linke Aktivisten per Strafbefehl wegen öffentlichen Aufrufs zu Verbrechen oder Gewalttätigkeit. Weil die mutmasslichen Urheber des Plakats die Strafbefehle angefochten haben, kommt es nun zum Prozess. Am 18. und 19. Januar wird der Fall vor Gericht verhandelt – internationale Schlagzeilen garantiert.