Auf einen Blick
- Andi Zai kämpfte mit Alkoholsucht und fand Hilfe in einer Klinik
- Alkoholkonsum nimmt bei vielen nach der Pensionierung «sprunghaft» zu
- 250'000 Menschen in der Schweiz sind alkoholabhängig, 1600 sterben jährlich
- Noch immer fehlen altersspezifische Suchtangebote
Morgens «beruhigt» er seinen Magen als Erstes mit ein paar Schnäpsen. Der Alkohol begleitet Andi Zai (69) rund um die Uhr. Geht er mit seinen Freunden Billard oder Pétanque spielen, liegt in seinem Rucksack immer ein Liter Bier. Die Freunde trinken Tee, er Alkohol. Am Schluss sind es eine Flasche Wein, dazu 1,5 Liter Bier und eine halbe Schnapsflasche – jeden Tag.
An einer Fachtagung hat er Mühe mit der Aussprache. Vergisst Worte. Dazu die Magenprobleme, der fehlende Appetit. Erst da merkt Zai: Ich habe ein Problem.
Andi Zai war Alkoholiker – und damit in bester Gesellschaft. Aus der neusten Schweizerischen Gesundheitsbefragung geht hervor, dass jeder dritte Mann ab 65 und zwei von fünf Männern ab 75 Jahren täglich Alkohol trinken – das ist viermal so viel wie in der Gesamtbevölkerung. Das Rauschtrinken hat bei Seniorinnen deutlich zugenommen. Die Pensionierung ist der Punkt, an dem der Alkoholkonsum gemäss Gesundheitsbefragung bei vielen «sprunghaft» ansteigt.
Die Probleme beginnen mit der Pensionierung
Im April 2020 – mitten im Lockdown – wird Zai pensioniert. Das geplante Abschiedsfest fällt ersatzlos weg. Zai geht ein letztes Mal nach Hause. Dabei hätte er nur zu gerne weitergearbeitet. Der gelernte Fotograf lässt sich mit 50 nach längerer Arbeitslosigkeit umschulen zum Sozialarbeiter, Fachgebiet Arbeitsintegration. Leute kennenlernen, Lebensläufe aufbauen, geeignete Plätze für sie suchen – spricht er über seine Arbeit, ist er kaum zu bremsen. Doch nicht einmal die Gewerkschaft, für die er sich jahrelang engagierte, will ihn noch – zu viele Pensionäre.
Von einem Tag auf den anderen bricht sein ganzes Tätigkeitsfeld, sein Sinn weg. «Ich hatte Schwierigkeiten, Boden zu fassen.»
Nach der Pensionierung beschränkt sich sein Alltag auf wenige Termine. Zai versucht, den Tag irgendwie zu füllen: ausschlafen, Mittag essen und nachmittags «noch ein bisschen raus» – spazieren oder mit Freunden Pétanque spielen. Doch es ist schwierig. Seine beiden Kinder, der 28-jährige Sohn und die 35-jährige Tochter, leben ihr eigenes Leben. «Es wurde deprimierend.» Und so wird Alkohol seine Krücke und sein Trost.
«Drei Gläser Wein sind zu viel»
Suchtgeschichten wie jene von Andi Zai kennt Thomas Maier, ärztlicher Leiter der Forel-Klinik, nur zu gut. Die Klinik zählt sich zu einer der führenden Einrichtungen, was die Behandlung von Alkoholabhängigkeit betrifft.
Mit der Pensionierung falle nicht nur die Tagesstruktur weg, sondern auch die soziale Kontrolle, hinzu komme Langeweile, bei Alleinstehenden Einsamkeit. Einige Betroffene steigern den Konsum langsam: Aus einem Glas Wein am Abend würden drei. «Das ist zu viel», sagt Maier. «So schlittert man in eine Abhängigkeit.»
Auch die Gesellschaft spielt ihre Rolle: «Wir geben vielen älteren Menschen das Gefühl, dass sie nicht mehr wichtig sind.» Die Lebensmüdigkeit einiger verhindere, dass sie das Problem einsähen und sich rechtzeitig Hilfe holen. Dabei ist für Senioren Alkohol besonders problematisch. «Sie besitzen weniger gesundheitliche Reserven und brauchen länger, um Alkohol abzubauen», sagt Maier. Dieselbe Menge, die man früher wegsteckte, könne zu Schwindel, Stürzen und Magenproblemen führen. Hinzu komme, dass ältere Menschen häufig sehr viele Medikamente einnähmen – eine gefährliche Kombination, besonders mit Schlafmitteln.
Selbst gute Freunde merken nichts
Zai steigert die Dosis stetig. Die Weinflasche, die er zuvor jeweils mit seiner Partnerin zum Znacht teilte, leert er nun selbst.
Dann kommen die Magenprobleme. Zu den drei Schnäpsen am Feierabend folgen jene am Morgen. Die Menge verteilt er sich über den Tag. «Ich ging zwischen Fernseher und Küche wie ein Pingpongball hin und her.» Kein Tag vergeht ohne Nervosität, Unrast.
Zai hat zwar einen steten Pegel, ist aber nie im Rausch. Selbst gute Freunde sehen nicht, wie er in die Sucht rutscht. «Gegen aussen habe ich funktioniert.»
Schon geringer täglicher Konsum ist problematisch
Auch das sei typisch, sagt Maier: «Viele denken, wenn sie nie betrunken sind, hätten sie kein Alkoholproblem.» Das stimme nicht. Rauschtrinker seien klar in der Minderheit.
In der Schweiz sind geschätzt 250’000 Menschen alkoholabhängig, jedes Jahr sterben fast 1600 daran. Heute weiss man, dass selbst geringe tägliche Mengen schädlich sein können. «Die 37 Prozent der Männer über 75, die täglich trinken, sind sehr gefährdet», sagt Maier.
In der Bevölkerung fehle das Bewusstsein, dass derart viele Senioren einen problematischen Umgang mit Alkohol hätten. Er spricht von einer «unerkannten Epidemie». Zwar hätte Prävention in den letzten Jahren viel bewirkt, aber noch immer gebe es zu wenig altersspezifische Beratungsangebote. Und gerade die Senioren selbst hätten teilweise noch eine unreflektierte Haltung gegenüber Alkohol.
Viele Betroffene leugnen oder verharmlosen das Problem und handeln erst, wenn ihnen die Kontrolle entglitten ist: Wenn sich die Partnerin getrennt hat, wenn ihnen der Führerschein entzogen wurde – oder nach einer schmerzhaften Magenerkrankung.
Magenprobleme, Ernährungsberatung – Suchtberatung
Mit der Zeit hat Zai kaum noch Hunger, isst nur noch ein Drittel des Tellers. Denkt immer noch, der Schnaps helfe gegen die Magenprobleme.
Auf Drängen der Partnerin besucht er eine Ernährungsberatung – ändert dann aber doch nichts. Den Alkohol braucht er jeden Tag. «Ich merkte, dass ich damit eine Schwelle überschritt, habe aber teilweise bewusst weitergemacht.»
Thomas Maier empfiehlt Angehörigen, einen problematischen Konsum eines Nahestehenden anzusprechen. «Wichtig ist es, dabei nicht wertend oder vorwurfsvoll zu sein», sagt Maier. Zum Beispiel so: «Ich mache mir Sorgen, ich finde, du trinkst zu viel.»
Meistens brauche es mehrere Anläufe. «Eine Sucht wird oft lange abgewehrt.» Helfen könne auch, wenn mehrere Personen darauf aufmerksam machen – beispielsweise auch die Hausärztin den Alkoholkonsum thematisiere. Zeigten die Betroffenen keinerlei Einsicht, könne man sie bitten, für eine oder zwei Wochen einen Trinkstopp-Versuch zu wagen. «Schaffen sie das, ist das ein gutes Zeichen», sagt Maier.
Spezialisierte Anlaufstellen für Sucht im Alter finden Sie unter anderem hier:
Thomas Maier empfiehlt Angehörigen, einen problematischen Konsum eines Nahestehenden anzusprechen. «Wichtig ist es, dabei nicht wertend oder vorwurfsvoll zu sein», sagt Maier. Zum Beispiel so: «Ich mache mir Sorgen, ich finde, du trinkst zu viel.»
Meistens brauche es mehrere Anläufe. «Eine Sucht wird oft lange abgewehrt.» Helfen könne auch, wenn mehrere Personen darauf aufmerksam machen – beispielsweise auch die Hausärztin den Alkoholkonsum thematisiere. Zeigten die Betroffenen keinerlei Einsicht, könne man sie bitten, für eine oder zwei Wochen einen Trinkstopp-Versuch zu wagen. «Schaffen sie das, ist das ein gutes Zeichen», sagt Maier.
Spezialisierte Anlaufstellen für Sucht im Alter finden Sie unter anderem hier:
Im Frühling 2022 meldet ihn seine Partnerin bei einer Suchtberatungsstelle an. Doch Zai will nichts ändern. «Sie ging dann alleine.»
Kurz darauf die Fachtagung, die vergessenen Worte, dann ihr Geburtstag. Zai merkt: «Ich kann das weder ihr noch mir länger zumuten.» Als Geschenk verspricht er ihr, sich zu ändern. Und meldet sich wenige Tage später in der Klinik an.
«Was soll ich in diesem Ellikon?»
Am 21. Juni 2022 tritt Zai den Entzug an in der Forel-Klinik in Ellikon an der Thur ZH. Hier wurden letztes Jahr über 700 Alkoholsüchtige behandelt. Knapp jede zehnte Person war über 65.
Es ist Zais erstes Mal in einer Klinik. Das, was er heute als «Geschenk» bezeichnet, kommt ihm zu Beginn wie ein Gefängnis vor. Zuerst muss er in den körperlichen Entzug. Eine bis zwei Wochen dauert das: starkes Schwitzen, Pulsrasen, Schlaflosigkeit, Schmerzen, Krampfanfälle und schlimmstenfalls Herz-Kreislauf-Kollaps sind mögliche Symptome.
Zais Entzug verläuft ohne Probleme. Nach einer Woche heisst es, er solle drei Monate zur sogenannten Entwöhnung bleiben: Patientinnen sollen sich ans Leben ohne Alkohol gewöhnen, lernen, mit Stress umzugehen, den Schlaf zu regulieren.
Es ist der kritischste Punkt. Die Hälfte beendet nach dem körperlichen Entzug die Behandlung. «Viele denken, jetzt muss ich mich einfach zusammenreissen, und dann geht das von selbst», sagt Maier. Oft gehe die Abhängigkeit aber tiefer, Depressionen oder Traumata werden sichtbar. Dann erst beginnt die harte Arbeit.
Auch Zai zögert: «Ich dachte mir, was soll ich in diesem Ellikon? Mein Leben ist in Zürich.» Merkt dann aber, dass es notwendig ist: Er braucht eine Neuorientierung fernab vom bisherigen Alltag.
Drei Monate verbringt er mit Gruppen-, Einzel- und Ergotherapie und Sport. Er lernt, Frust auszuhalten, aber auch, was ihm im Leben wichtig ist. Heute sagt er: Er habe sich zu wenig um seine Hobbys gekümmert, vergessen, was er neben seinem Beruf überhaupt gerne mache.
Zai setzt sich neue Ziele – noch in der Klinik fertigt er für seine Freunde aus der Klinik Lebensläufe an, bessert ihre Bewerbungsschreiben auf und ist aktuell bis nächsten Juni, nach erfolgreicher Entwöhnung, in der Ausbildung zum «Peer» – er unterstützt Menschen mit einer Abhängigkeit mit seiner eigenen Suchterfahrung.
Seit zweieinhalb Jahren abstinent
Heute lebt Zai wieder ein erfülltes Leben – stolz erzählt er, dass er nun drei bis vier Termine pro Tag habe. Seit zweieinhalb Jahren lebt er abstinent, wird weiterhin ambulant betreut und engagiert sich in einer Selbsthilfegruppe. Zwei Jahre hat er nicht einmal alkoholfreies Bier getrunken – aus Selbstschutz. 2023 hat sich seine Partnerin von ihm getrennt.
Letzten August war Zai fotografieren an der Street Parade – und merkte, dass an keinem der offiziellen Verkaufsstände alkoholfreies Bier angeboten wird. Das habe ihn frustriert, sagt er. Er will das ändern. Sollte er bei den Verantwortlichen abblitzen, hat er schon einen Plan B.