Luzerner «Cuddle Party» ist ein einmaliges Erlebnis
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Kuschelst du genug?Luzerner «Cuddle Party» ist ein einmaliges Erlebnis

Am Kuschelabend in Luzern
Mit Fremden auf der Kuschelwiese

Unbekannte Menschen herzen? Das braucht etwas Überwindung. In der Praxis zeigt sich: Am geleiteten Kuschelabend wirkt es auf einmal natürlich, wildfremde Menschen zu streicheln und von ihnen berührt zu werden.
Publiziert: 25.12.2022 um 12:56 Uhr
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Aktualisiert: 26.12.2022 um 10:21 Uhr
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Ausgelegte Matten bilden die Kuschelwiese. Hier liebkosen Frauen und Männer einander während einer guten halben Stunde zum Abschluss des Kuschelabends.
Foto: Anja Wurm
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Mein Kopf ruht auf der Brust dieses Mannes, den ich vor zwei Stunden erstmals gesehen habe. Seinen Namen habe ich gehört und gleich wieder vergessen. Ich spüre seinen Herzschlag. Er atmet ruhig, streicht langsam über meinen Oberarm. Ich taste nach dem Körper, der neben dem Mann liegt, finde eine Hand, sie verflechtet sich mit meiner.

Kuscheln mit Fremden? Die Idee wirkt abwegig, gar anstössig – und ist doch ein bewährtes Konzept nicht nur an diesem Anlass an einem Dezemberabend in Luzern. «Cuddle Party» nannten es die Erfinder in New York vor rund 20 Jahren. In Schweizer Städten wie Zürich, Winterthur ZH, Bern, Basel und Luzern wird monatlich zum Kuschelabend geladen.

Um Erotik geht es nicht

«Das Wort Party vermeiden wir bewusst», sagt Elmar Büeler (45), der die Luzerner Reihe mit Marlise Bühler (50) und Patrick Hofer (56) seit 2016 leitet. «In der Alltagssprache ist Kuscheln häufig ein Synonym für: Mal schauen, ob daraus Sex entsteht. Das ist es bei uns nicht.»

Elmar Büeler (45), Marlise Bühler (50) und Patrick Hofer (56) leiten gemeinsam das Angebot Kuscheln Luzern. Die Kuschelabende bieten sie seit sechs Jahren an.
Foto: Anja Wurm

Beim Kuscheln mit Fremden geht es nicht um erotische Energie. Die Berührungen sind absichtslos und achtsam. Der Intimbereich ist tabu, ebenso ein Abgleiten unter die Kleidung. Ein Zweierteam leitet die jeweils 15 bis 20 Frauen und Männer, trägt durch den Abend.

Trotzdem: Wer das Angebot das erste Mal ausprobiert, verlässt seine Komfortzone. Das hat mit unseren gesellschaftlichen Konventionen zu tun. Von klein auf wird uns beigebracht, dass Nähe und Berührungen potenziell gefährlich sein können. Wer mit Kindern arbeitet, ist dazu angehalten, diese nicht physisch zu trösten. Die #MeToo-Bewegung verstärkt die Unsicherheit, ob eine Berührung überhaupt sein darf. Und Corona hat unsere Beziehung zur Nähe erst recht vergiftet. So sagte doch der oberste amerikanische Seuchenschützer Anthony S. Fauci (81): «In einer idealen Welt würden wir aufs Händeschütteln verzichten.» Weitere Formen der Berührung meinte er wohl gleich mit.

Gut für die Gesundheit

Das mag in Bezug auf die Übertragung von Viren seine Richtigkeit haben. Doch die Forschung zeigt, dass Berührungen Wohlbefinden und Gesundheit fördern. Und dass umgekehrt ein Mangel an körperlicher Zuwendung immensen Schaden anrichten kann.

Das Leid von geschätzt 170’000 Kindern, die unter dem rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu (1918–1989) in Waisenhäusern aufwachsen mussten, bestätigt die Befunde aus wissenschaftlichen Versuchen mit Affen: Vernachlässigung und fehlende körperliche Zuneigung führen zu massiv verzögerter Entwicklung und schlechterem Gedeihen.

Die Psychologin Tiffany Field (80) forscht seit rund 40 Jahren zu den therapeutischen Wirkungen von Berührungen und positiven Effekten von Massagen in allen Lebensphasen, vom frühgeborenen Säugling bis zum Seniorenalter. So konnte die Direktorin des Touch Research Institute in Miami (USA) aufzeigen, dass das Fehlen liebevoller Berührungen zu einem höheren Grad an Aggressivität führt. Berührungen mit moderatem Druck beruhigen das Nervensystem, senken den Blutdruck und den Pegel der Stresshormone. Dies wiederum führt zu einer höheren Anzahl von Immunzellen, die Bakterien, Viren und Krebszellen bekämpfen.

Eine tägliche Dosis Berührung

Aus dieser Warte hat Anthony S. Fauci also nicht recht: Berührungen wären erst recht wichtig, um dem Körper die Ressourcen zu geben, Viren zu bekämpfen. Auf die Frage, wie viel Berührung jede Person denn idealerweise haben sollte, antwortet Tiffany Field per Mail: «Das Bedürfnis ist individuell. Doch ich sage immer: Wie Ernährung und Bewegung braucht jede Person eine tägliche Dosis Berührung.» Die Professorin hält fest, dass Kuschelabende wie jener in Luzern eine ähnlich positive gesundheitliche Wirkung haben dürften wie eine Massagetherapie.

Die Sehnsucht nach Berührungen bezeichnet man als «Skin Hunger», also: Hunger nach Haut.
Foto: Anja Wurm

«Skin Hunger» meint das biologische Bedürfnis nach Berührung. Dass wir als Gesellschaft diesbezüglich unterversorgt sind, stellte Tiffany Field weit vor Corona fest. Während der Pandemie führte sie dazu weitere Studien durch: Der fast totale Berührungsentzug, den gerade alleinstehende Menschen erlebten, führte unter anderem zu Depressionen, Angstzuständen, Erschöpfung, Schlafstörungen.

Geschäftsmodell Berührung

Das Bedürfnis nach Berührung ist in vielen Ländern der Welt ein Markt geworden. Von den USA bis nach Japan gibt es Kuschel-Shops oder Kuschel-Cafés, in denen Kundinnen und Kunden fürs gemeinsame Dösen und Knuddeln mit Angestellten im Stundentarif bezahlen. In Japan haben Gäste in manchen Cafés die Möglichkeit, Katzen oder Hasen zu streicheln. Und der ebenfalls in Japan erfundene Roboter Paro, eine plüschige Robbe, wird auch in Schweizer Heimen zum Beispiel in der Therapie von Demenzkranken eingesetzt.

In Luzern sagt Marlise Bühler: «Kuschelabende sind kein Therapieangebot.» Doch von der starken Wirkung des Kuschelns in der Gruppe ist das Leitungstrio seit der jeweils eigenen ersten Erfahrung in Zürich vor einigen Jahren überzeugt. Patrick Hofer sagt: «Ich konnte dort innert kürzester Zeit in eine Ruhe hineinkommen. Das hat mich fasziniert.» Von einem Gefühl der Tiefenentspannung spricht auch Elmar Büeler. Er sagt: «Die Erfahrung, in so kurzer Zeit einer Gruppe von Menschen so nah kommen zu können, hat mich tief drinnen berührt.»

Aus Fremden, die teils selbst-, teils unsicher aus der Kälte in den Pavillon treten, werden innerhalb von drei Stunden – nein, keine Freundinnen und Freunde. Die Fremden bleiben fremd, die Namen – gehört, vergessen. Viel mehr erfährt man nicht, es ist hier nicht wichtig. Doch die Fremden werden zu einem Kollektiv, einem Rudel ähnlich, das sich einander vertrauensvoll zuwendet.

Massage durch zwei Engel

Als Kuschel-Energie bezeichnen Erfahrene diesen Zustand, wenn es ganz natürlich erscheint, dass man mit geschlossenen Augen daliegt und nicht weiss, zu wem die vier Hände gehören, die einem über den Körper streichen, ihn streicheln, kraulen, kneten. Die sogenannte Engelsübung ist der letzte vorbereitende Teil. Wir haben uns Schritt für Schritt, von der aufrechten Begegnung mit Augenkontakt bis zur liegenden Hingabe angenähert. Auf den abschliessenden Kuschelhaufen freuen sich jene besonders, die nicht zum ersten Mal hier sind. Ich beobachte zunächst die anderen, finde dann eine Lücke zwischen den jungen und älteren Körpern, kuschle mich an diese Männerbrust. Spüre sein Herz, seinen und meinen Atem.

Später tauche ich aus einer tiefen Entspannung auf und verlasse kurz danach diesen geschützten Raum. Verstrubbelt, genährt, ganz bei mir, etwas entrückt, wie aus einem Schlaf erwachend.

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