Der Tag liess Daniela T.* (54) auch in der Nacht nicht los. In ihrem Job bearbeitet die Juristin Schadensfälle bei einer Versicherung. «Sobald ich abends die Augen schloss, tauchten die Schicksale wieder auf», erzählt sie. Die Mutter, die versehentlich ihr Kind überfuhr. Oder der verunglückte Töfffahrer, der seine Familie zurückliess.
Jahrelang lang litt T. unter Einschlafstörungen. Was höchstens 30 Minuten gehen sollte, dauerte bei ihr Stunden. Damit ist sie nicht allein. In der Schweiz sind Schlafprobleme zur Volkskrankheit geworden. Jeder Fünfte schläft schlecht ein, ein Viertel der Bevölkerung wacht gerädert auf, wie eine Schlafstudie des Matratzenherstellers Bico zeigte.
Schlaf ist überlebenswichtig, sein Entzug eine Foltermethode. Wir alle brauchen ihn, bestenfalls sieben bis neun Stunden die Nacht. Wenig Schlaf gilt als Statussymbol der Erfolgreichen. Gleichzeitig sind Schlafstörungen nach wie vor ein Tabu.
Der Teufelskreis der Schlaflosen
«Das Schlimmste war der nächtliche Stress», sagt Daniela T. Sie hatte alles probiert: ausreichend Bewegung, keine schweren Mahlzeiten vor dem Zubettgehen. Sie verbannte Handy, Laptop und Fernseher aus dem Schlafzimmer. Vergebens. Die Kirchturmuhr schlug eins, zwei, und Tobler rechnete verzweifelt aus, wie wenig Schlafenszeit ihr noch blieb bis zum Weckerklingeln.
Der Alltag wurde zur Herausforderung. «Ich war ständig müde und lustlos, hatte keine Energie, um irgendetwas zu unternehmen. Stattdessen nickte ich vor dem Fernseher ein.» Ein Jahr lang nahm sie Schlaftabletten, doch ohne gewünschte Wirkung. Sie schlief damit zwar ein, fühlte sich tagsüber jedoch ebenso erschöpft. Je schlimmer der Tag, desto mehr fürchtete sie die Nacht. Ein Teufelskreis.
Leistungsdruck und Säbelzahntiger
Der Schlaf beschäftigt einen Grossteil von uns mehr, als einem lieb ist. «80 Prozent der Bevölkerung haben mindestens einmal in ihrem Leben eine Phase, in der sie nicht gut schlafen», sagt Chefarzt Sebastian Zaremba (41). Er sitzt in seinem Büro in der Zurzach Care Klinik für Schlafmedizin in Luzern. Seit der Geburt seiner Tochter beginnt sein Tag um fünf Uhr morgens, letzte Nacht ist er zweimal aufgestanden.
Doch nicht nur das: Wir schlafen immer schlechter. Unsere Lebensumstände sind die Übeltäter. «Heute müssen wir rund um die Uhr erreichbar sein und ständig funktionieren», sagt Zaremba. So haben wir einerseits weniger Zeit zur nächtlichen Erholung, andererseits rauben uns Stress durch Leistungsdruck und ein turbulentes Weltgeschehen wie Pandemie und Krieg den Schlaf.
Der Stress der heutigen Welt ist es also, der bis in den Tiefschlaf sickert und unsere Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Ein Tausende Jahre alter Überlebensmechanismus, der uns im Ernstfall schneller aufputscht als jeder dreifache Espresso. Nur wollen wir im Schlafgemach der Postmoderne nicht mehr vor dem Säbelzahntiger im Höhleneingang wegrennen, sondern vor den Mails im Posteingang.
Schlafkiller Homeoffice
«Oft sind wir uns gar nicht wirklich bewusst, welch riesigen Effekt unsere Gewohnheiten auf den Schlaf haben», sagt Zaremba. Wenn wir im Homeoffice plötzlich länger schlummern und den ganzen Tag in Trainerhosen auf dem Sofa sitzen, ist es kaum verwunderlich, wenn wir am Abend nicht müde sind. Die Tagesstruktur fehlt.
Immerhin: Zusammen mit der Anzahl Schlafkrankheiten ist auch das Bewusstsein für sie gewachsen. Zum Beispiel für die Schlafapnoe, bei der die Atmung im Schlaf aussetzt. Oft Hunderte Male pro Nacht. Jedes Mal wacht man kurz auf, am Morgen erinnert man sich nicht mehr daran. Rund 20 Prozent der Bevölkerung leiden daran, meist Männer, meist unwissentlich. Oder die Insomnie, die zweithäufigste Krankheit, bei der man nicht ein- oder durchschlafen kann oder zu früh aufwacht. Von ihr sind Frauen doppelt so häufig betroffen.
Von einer chronischen Schlafstörung spricht man, wenn die jeweiligen Probleme einen Grossteil der Woche andauern – und das mindestens drei Monate lang. Der Hausarzt verschreibt zur Symptombekämpfung meist Schlafmittel. Jedes Jahr steigt der Konsum an. Psychische Belastungen der Corona-Pandemie scheinen ihn zu beeinflussen, bestätigt die Präventionsstelle Sucht Schweiz. Auch seien die Anspannungen rund um den Ukraine-Krieg wohl nicht gerade hilfreich.
Vier Prozent der Befragten des Suchtpanoramas 2022 gaben an, mehrmals pro Woche Schlafmittel zu konsumieren. Ein Teil von ihnen ist abhängig, denn das Suchtpotenzial ist hoch. Sucht Schweiz schätzt, dass hierzulande ähnlich viele Menschen süchtig nach Schlafmitteln sein könnten, wie es Alkoholabhängige gibt – also etwa 250'000 Schweizerinnen und Schweizer.
Weshalb brauchen wir den Schlaf?
Der Zustand, in dem wir ein Drittel unseres Lebens verbringen, ist überraschend wenig erforscht, die Schlafmedizin ein junges Gebiet. Was die Wissenschaft weiss: Der Körper durchläuft vier Schlafphasen, die er in Zyklen wiederholt. Die Einschlafphase, der leichte Schlaf, der Tiefschlaf sowie der REM-Schlaf, auch Traumschlaf genannt.
Der Tiefschlaf ist die beste Medizin: Der Körper regeneriert sich, das Immunsystem bekämpft Viren und Bakterien, beschädigte Zellen werden repariert, Wachstumshormone zur Zellerneuerung gebildet. Erlebnisse und Erlerntes werden ins Langzeitgedächtnis übertragen.
Im REM-Schlaf hingegen schwankt die Herzfrequenz, und der Blutdruck steigt, während wir in dieser Traumphase die Ereignisse des Tages verarbeiten. Schlafen wir langfristig weniger als sechs Stunden pro Nacht, erhöht sich das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Störung zu erkranken. Die Lebenserwartung sinkt.
Die Schlaftherapie
In der Klinik versuchen Zaremba und sein Team, die Ursachen für eine Schlafstörung zu erkennen und zu behandeln. Und den Menschen beizubringen, was in der Schule nicht unterrichtet wird: wie man richtig schläft. Im Behandlungszimmer sitzt heute Aaron G.* (30), ihm gegenüber Ladina Nager (30), seine Schlaftherapeutin. Zwischen den beiden liegt ein Blatt Papier.
Weit schlagen die schwarzen und gelben Linien im Diagramm aus. Verraten, wann Aaron G. die letzten Tage Sport getrieben hat, wann er unterwegs war, wie er sich trotz Müdigkeit durch Tag und Nacht gekämpft hat. «Hier sieht man, dass Sie lange wachgelegen sind, immer wieder aufgewacht sind und auch morgens zu früh aktiv waren», sagt Nager und tippt auf die Auswertungen des Aktometers. Ein Gerät, das die Aktivitäts- und Ruhephasen des Patienten misst.
Aaron G. leidet an Schlafapnoe und Insomnie. Ein heimtückischer Mix, weil sich die beiden Erkrankungen gegenseitig begünstigen können. Und weil er so schlecht einschlafen kann, empfindet G. die Atemmaske als störend, die ihm gegen die Apnoe helfen und die nächtlichen Atempausen unterdrücken soll. Deshalb soll es zuerst der Insomnie an den Kragen gehen.
Schlafprobleme werden oft nicht ernst genommen
Eigentlich sei Aaron G. ein aufgestellter Mensch. Doch nach den schwierigen Nächten falle ihm alles schwer, und sei es nur schon das Kochen am Abend. Schon so lange er denken kann, fühlt er sich morgens gerädert. Er schraubt sein Privatleben zurück, damit er seine Arbeit bei einem Kinderhilfswerk ausführen kann. «Früher war ich viel extrovertierter, heute gehe ich die Dinge ruhiger an», sagt er, den es frustriert, dass sein Leiden, das man ihm nicht ansieht, oft nicht ernst genommen wird.
Seit der Apnoe-Diagnose hat sich G. radikal verändert: Er nahm 20 Kilo ab, weil Übergewicht die Krankheit begünstigt. Er hörte auf zu rauchen, macht viel Sport, achtet auf eine gesunde Ernährung. Kurzfristig schlief er tatsächlich besser, hatte plötzlich viel mehr Energie. Doch unterdessen bereitet ihm der Schlaf erneut Sorgen: «Es plagt mich abends kein Gedankenkarussell, müde bin ich auch. Trotzdem kann ich einfach nicht einschlafen.» Diagnose Nummer zwei: Insomnie.
Das Schlafrezept
Neben der körperlichen Müdigkeit braucht es zum Schlafen auch die Schläfrigkeit, erklärt Therapeutin Nager. Dafür greift der Körper in seinen Chemieschrank: Ab dem Aufstehen baut er Schlafdruck auf, zum Beispiel mit dem Hormon Adenosin. Bis die Kurve abends bestenfalls so hoch ist, dass wir einschlafen können. Aus diesem Grund ist es gefährlich, nach der Arbeit auf dem Sofa kurz zu dösen: Gleich nach dem Einschlafen wird der Schlafdruck am schnellsten abgebaut.
- Erst zu Bett gehen, wenn man schläfrig ist
- Regelmässige Schlafenszeiten einhalten
- Kein Alkohol oder grössere Mahlzeiten drei Stunden vor dem Schlafen
- Keine koffeinhaltigen Getränke ab 14 Uhr
- Entspannende Pufferzone zwischen Alltag und Schlaf einrichten
- Das Bett nur für Schlaf und Sex nutzen
- Nicht länger als 30 Minuten Mittagsschlaf halten
- Vor dem Schlafengehen aktivierenden Medienkonsum (Handy, Computer, Fernsehen) vermeiden
- Sich täglich bewegen und an die frische Luft gehen
- Bei Tropennächten: Fenster am besten morgens öffnen, wenn die Luft noch kühl ist. Danach alle Fenster schliessen und die Räume abdunklen.
- Ebenfalls gegen Hitze: Alle Geräte ausschalten. Computer, Fernseher oder auch Lampen geben Wärme ab.
- Erst zu Bett gehen, wenn man schläfrig ist
- Regelmässige Schlafenszeiten einhalten
- Kein Alkohol oder grössere Mahlzeiten drei Stunden vor dem Schlafen
- Keine koffeinhaltigen Getränke ab 14 Uhr
- Entspannende Pufferzone zwischen Alltag und Schlaf einrichten
- Das Bett nur für Schlaf und Sex nutzen
- Nicht länger als 30 Minuten Mittagsschlaf halten
- Vor dem Schlafengehen aktivierenden Medienkonsum (Handy, Computer, Fernsehen) vermeiden
- Sich täglich bewegen und an die frische Luft gehen
- Bei Tropennächten: Fenster am besten morgens öffnen, wenn die Luft noch kühl ist. Danach alle Fenster schliessen und die Räume abdunklen.
- Ebenfalls gegen Hitze: Alle Geräte ausschalten. Computer, Fernseher oder auch Lampen geben Wärme ab.
Der zweite Schlaf-Faktor ist die innere Uhr. Morgens erhöht sie die Körpertemperatur und schüttet Stresshormone aus. Wir wachen auf. «Dieselben Stresshormone können auch bei einer Insomnie ausgeschüttet werden – allerdings bereits in der Nacht», so Nager. Dabei sollte die innere Uhr zur Schlafenszeit eigentlich so ticken, dass wir Melatonin ausschütten, sich Körpertemperatur und Blutdruck senken und der Schlafdruck mehr Raum erhält. Regelmässige Schlafenszeiten sind für empfindliche Schläfer deshalb besonders wichtig.
Durch Schlafmangel zur Erholung
Heute hat Nager schlechte Nachrichten für Aaron G. «Insomniker dümpeln oft viel zu lange in der Einschlafphase herum», erklärt die Therapeutin. Also in der Schlafphase eins, in der man noch denkt und hört und im Nachhinein nicht mehr richtig weiss, ob man tatsächlich geschlafen hat. Der nächste Schritt in der Insomnie-Therapie besteht deshalb aus einer einwöchigen Verkürzung der Bettzeit.
G. soll um elf ins Bett und um sechs aufstehen, jeden Tag, auch am Wochenende. Durch seine Schlafprobleme werde so kurzfristig ein Schlafentzug herbeigeführt – woraufhin das Gehirn seine Schlafarchitektur in der Not automatisch anpasst. Durch den Mangel wird es trainiert, wieder schneller in den Tiefschlaf zu fallen. Eine harte Methode, die sich jedoch langfristig auszahlt: Die Ergebnissen seien sehr gut, sagt Nager.
«Ich habe schon so viel ausgehalten und immer weitergemacht, dann schaffe ich das jetzt auch noch», so G., der sein Leben endlich voll und ganz ausschöpfen will. Was ihn beim Thema Schlaf am meisten überrascht: Wie unglaublich viele Faktoren diesen beeinflussen. «Ich selber habe es in der Hand, meine Schlaf- und Lebensqualität zu verbessern – das motiviert mich, das alles durchzuziehen.»
«Man muss hart an sich arbeiten»
Auch Daniela T. hat mittlerweile endlich einen Weg gefunden, ihre Einschlafstörung zu beheben: mit Entspannungsübungen, die sie in der Hypnosetherapie gelernt hat. «Ich habe etwa drei Wochen lang in der Mittagspause auf dem Bürostuhl oder zu Hause vor dem Einschlafen geübt. Mehrmals am Tag, bis es geklappt hat», sagt sie.
Das Problem sei, dass wir nur zu gerne hätten, dass jemand anders unsere Probleme löse, sagt die Juristin. «Aber so funktioniert das nicht: Man muss hart an sich selber arbeiten.» Heute schläft sie etwa sieben Stunden pro Nacht. Ob sie gerne noch länger würde? Nein: «Jetzt, wo ich nicht mehr ständig müde bin, will ich schliesslich auch etwas vom Tag haben.»
* Namen bekannt