Alle Jahre wieder
Der Drang des Nordens Richtung Süden

Rowdies, Raucher, röhrende Schwyzer – im Stau lernt man seine Mitmenschen kennen. Eine österliche Reise ins Tessin. Nebst Besuch bei einem Krisengewinner.
Publiziert: 17.04.2022 um 00:42 Uhr
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Aktualisiert: 17.04.2022 um 13:40 Uhr
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Dränger, Raucher, Hündeler: Im Stau lernt man die Leute kennen.
Foto: Siggi Bucher
Tobias Marti

Insgeheim glaubt wohl jeder, er käme doch noch zügig durch. Wenn er nur früh genug losführe. An Ostern. Mit dem Auto. Durch den Gotthard.

Aber das ist natürlich Wunschdenken. Am Karfreitag scheint die Sache im Grunde schon gelaufen, sobald die Autobahn erreicht ist. Bereits in Zürich-Wiedikon verspottet eine Leuchttafel über ihren Köpfen all die Hoffnungsfrohen: «Gotthard 90 Minuten Stau». Dabei ist es gerade mal halb fünf Uhr früh!

Das eigentliche Ostermartyrium beginnt in Erstfeld UR. Nach zehn Minuten Stillstand ahnt man: Der Worst Case ist tatsächlich eingetreten. Der Stau hat einen. Und er wächst. 8, 11, 13, 14 Kilometer – in Lebenszeit ausgedrückt: zwei, drei, zu viele Stunden.

Warten

Wir stellen den Motor ab. Zeit für ein kurzes Psychogramm der anderen Ausgebremsten. Der Typ (weisser Trainer), der mit seinem Maserati (Schwyzer Nummer) rechts ausschert, gehört eindeutig zur Sorte Drängler. Via Parkplatz hat er ein paar Meter gutgemacht und reiht sich wieder ein. Was ihn – wie ein lautes Röhren signalisiert – diebisch freut. Auch die Töfffahrer bewegen sich noch. Lässig tuckern sie zwischen den stehenden Vierrädlern hindurch.

Die Ersten (es sind immer die Raucher) verlassen ihr Fahrzeug und schlendern über die Autobahn. Letzter Spaziergang auf der Alpennordseite. Jetzt gehen auch die Hündeler Gassi. Reisegruppen finden sich wieder. Der Luzerner vor uns läuft zum Volvo hinter uns und freut sich, als hätte er seine versprengte Kompanie wiedergefunden. Ein Wildpinkler am Strassenrand gestikuliert aufgeregt: Seine Frau soll kurz das Steuer übernehmen!

Dann zeigt das Navi einen Ausweg aus der Misere. Runter von der A 2 und rauf auf die Hauptstrasse. Nur: Irgendwie scheint das riskant, am Ende strandet man oben auf dem Pass, wo noch Eis und Schnee liegen. Dann doch lieber die Sicherheit des Staus.

Nach fünf Stunden erreichen wir Airolo TI. Die Sonne scheint, die Raststätte San Gottardo Sud rüstet sich für den Ansturm. Die Dame hinterm Tresen lächelt nur sanft auf die Frage, wie viele «caffè» sie heute ausschenke. «Cinquemila» gingen allein in den Morgenstunden über den Tresen.

Tagesausflügler

Da kommt auch schon Familie de Sousa mitsamt Enkeln. Nur drei Stunden hatten sie von Bern bis hier. Natürlich umfuhren sie den Stau via Hauptstrasse. Das Navigationssystem habe die Route plötzlich vorgeschlagen. Kurz vor dem Tunnel reihten sie sich wieder in die Karawane ein. Zwei Stunden gespart. Sie klingen wie die Weisen aus dem Morgenland. De Sousas wollen nun aber schnell weiter nach Melide ins Swissminiatur. Und am Abend wieder retour.

Es gibt sie also noch, die wirklich Verwegenen, die über Ostern schnell einen Tagesausflug ins Tessin machen.

Man hätte natürlich auch den Zug nehmen können. Mehr als zwei Dutzend Extrazüge beschafften die SBB über die Feiertage. Wie den Intercity 667 aus Basel, der gerade in Lugano Stazione eintrifft. «Sehr hohe Belegung erwartet», hatte die Bahn-App gewarnt, was auf dem Perron dann ein wenig wie eine der biblischen Plagen aussieht. Die Masse strömt auf den Bahnhofsplatz und wälzt sich mit Sack und Pack zum See hinab. Manche haben sogar die Katze mitgenommen.

Ein Rucksack-Paar aus Zürich ordert in der «Binario Snack Bar» noch schnell etwas zum Futtern.

Zürcher:
«Wow. Die haben hier auch Veggipizza. Zwei Stück gerne.»
Tessinerin:
«Si?»
Zürcher:
«Wie heisst Zwei schon wieder?»

Tessinerin wartet.

Zürcher:
«Jetzt wollte ich schon spanisch sprechen.»
Tessinerin:
«Due?»
Zürcher:
«Ja genau. Höhö.»

Alle sprechen deutsch

Auch unten am See – wo die Leute auf- und abflanieren, als gälte es etwas abzuhaken – spricht man durchwegs deutsch. Wogegen nicht alle Einheimischen etwas zu haben scheinen. «Es sieht wieder nach einem Rekordergebnis aus», jubelte Lorenzo Pianezzi bereits Anfang Woche. Das letzte Jahr, glaubt der oberste Tessiner Hotelier, habe den Leuten Lust auf mehr gemacht.

Tatsächlich ist der Südkanton ein Krisengewinner. Vergessen der Katzenjammer wegen des starken Frankens, der die Touristen weiter Richtung Süden ziehen liess. Vorbei auch die Zeiten, als die Übernachtungszahlen schrumpften und schrumpften und manche Zeitungen bereits Abgesänge auf die trägen Tessiner Touristiker anstimmten.

Die Pandemie hat die Leute zurückgebracht. Wie Denny (22) und Laura (19), die mit dem Zug aus Zug gekommen sind. Um sechs Uhr morgens fuhren sie los, um sieben abends reisen sie wieder retour. Dazwischen gilt es, das obligate Programm zu absolvieren: sünnele, Pizza und Gelati hatten sie schon, eigentlich fehlt nur noch das Pedalo. Sie lachen, das Gelato tropft. Wer bis hierher gekommen ist, hat wirklich gut lachen.

Was aber auch gesagt werden muss: Das Volk verteilt sich. In Morcote etwa, für viele das schönste Dorf der Schweiz, ist die Stimmung noch sehr entspannt. Dito auf den Campingplätzen in Agno. Und oben in Montagnola ist vom Luganeser Trubel sowieso nicht mehr viel zu spüren. Ein Granittisch, zwei Steinbänke und drumherum ein Laubwald. Hier also, in dieser Oase, hat der Maestro einst gesessen. Hermann Hesse lebte 40 Jahre im Dorf und schrieb seinen «Siddhartha» dort. Wenn er eben nicht gerade im Grotto del Cavicc einkehrte.

Der junge Bertoldi, seine Familie wirtet hier seit drei Jahrzehnten, deutet stolz auf die historischen Bilder aus Hesses Zeiten. Die Bäume darauf sind kleiner, dafür hat es weniger Häuser.

Seither hat sich manches geändert. Oberhalb des Grottos bauen Investoren einen Apartmentkomplex mitten in den Wald. Auch am Karfreitag hämmert und lärmt es auf der Baustelle. Bertoldi verdreht die Augen.

Man bekommt das Gefühl, die weiteste Reise seit Ewigkeiten unternommen zu haben. Dann wird die Polenta aufgetragen.

«Es ist ein Fabelwetter hier im Tessin»
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Blick TV-Reporter berichtet:«Es ist ein Fabelwetter hier im Tessin»
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