Blick: Seit Tagen demonstrieren in Deutschland die Bauern. Warum fühlen sie sich trotz grosszügiger Subventionen immer wieder so benachteiligt?
Peter Moser: Ihre Frage spiegelt gut, wie die Industrie- und Konsumgesellschaft die Landwirtschaft wahrnimmt und mit ihr umgeht.
Wie geht die Gesellschaft mit ihr um?
Sie versucht, die Landwirtschaft nach dem Vorbild der Industrie zu modellieren. Lange war die Agrikultur dominant, die Kirche passte sich mit ihren Feiertagen der landwirtschaftlichen Saisonalität an. Seit dem 19. Jahrhundert ist das anders, jetzt gibt die Industrie- und Konsumgesellschaft den Takt an.
Die Landwirtschaft soll effizient sein, viel und günstig produzieren – so der Anspruch.
Ja, aber effizient in einem industriewirtschaftlichen, nicht einem agrarischen Sinne. Und ökologisch zugleich. Deshalb versucht man, die Landwirtschaft radikal umzugestalten. Der Schaffhauser Regierungsrat Zacharias Gysel hat diese Absicht 1854 in seinem Buch mit dem legendären Titel ‹Der Schaffhauser Bauer, wie er sein sollte, und wie er nicht ist, wie er ist, und wie er nicht sein sollte› auf den Punkt gebracht.
Wo liegt das Problem?
Nicht das Problem, aber der Grund: Bei der Ressourcengrundlage. Die Landwirtschaft kann Tiere und Pflanzen nutzen und diese immer wieder reproduzieren: Aus einer Kuh gibt es ein Kälbchen und daraus später wieder eine Kuh. Die Industrie hingegen verbraucht ihre benötigten Ressourcen. Aus Erdöl gibt es Pneus, aber nie wieder Erdöl. Die Landwirtschaft ist saisonal und wetterabhängig. Die Herstellung in der Fabrik hingegen kann kontinuierlich, Tag und Nacht erfolgen. Diese unterschiedlichen Grenzen und Potenziale von Industrie und Landwirtschaft werden heute kaum mehr verstanden.
In welchem Zusammenhang steht das mit den Protesten in Deutschland?
Viele Bauern und Bäuerinnen sind frustriert, weil sie auf ihren Betrieben versuchen, den Spagat zu machen, also industriell, effizient und ökologisch zugleich zu wirtschaften. Aber das kann nie ganz gelingen. Und viel wichtiger: Die moderne Gesellschaft ist unfähig, diesen Spagat zu verstehen.
Warum wählen die deutschen Bauern für ihre Anliegen die Strasse?
Auch, weil es in Deutschland keine Volksabstimmungen gibt und die Bauern im Parlament nur eine marginale Rolle spielen. Zudem werden viele agrarpolitische Entscheide in Brüssel gefällt. Und weder der Kanzler noch der Finanzminister reden mit ihnen. Die Strasse ist der Diskussionsraum der Ohnmächtigen.
Inwiefern ist dies in der Schweiz anders?
In der Schweiz gibt es Volksinitiativen und Referenden. Dadurch wird die Landwirtschaft zwar dauernd kritisiert, aber sie kann ihre Argumente in die Diskussionen einbringen.
1996 fühlten sich die Bauern nicht gehört, sie organisierten eine Grossdemo. Was war der Auslöser?
Damals hat der Staat die Agrarpolitik re-reguliert. Die Märkte wurden liberalisiert, dafür die Regulierungen im ökologischen Bereich ausgebaut. Hinzu kam die BSE-Seuche.
Die Bauern waren wütend, weil der Bundesrat verlangte, dass sie 230’000 Kühe schlachten.
Sie fühlten sich unfair behandelt, weil die Gesellschaft vorher jahrzehntelang verlangt hatte, die Schlachtabfälle als Mehl Tieren zu verfüttern, damit Fleisch und Milch noch günstiger wurden. Viele Bauern wollten das nicht, weil sie wussten, dass Wiederkäuer Pflanzen, aber nicht Tiere fressen. Als die Bauern einlenkten, wurden ihre Kühe buchstäblich wahnsinnig.
Heute sind die Bauern im Parlament sehr mächtig, wie erklären Sie das?
Das ist eine zwar extrem populäre Aussage – aber stimmt sie auch?
Fakt ist in Bezug auf die Bauern: Zwei Prozent der Bevölkerung werden durch zehn Prozent der Bundesparlamentarier vertreten. Kommt das der Landwirtschaft nicht sehr zugute?
Aber Fakt ist eben auch: Jedes Jahr müssen mehr als 1000 Betriebe aufgeben. Die politische Macht kann oder will offenbar die Verdrängung der Bauern und Bäuerinnen aus der Gesellschaft nicht verhindern. Deutet das nicht eher auf Ohnmacht als auf Macht der Bauern und Bäuerinnen hin?
Fragen wir anders: Warum sitzen so viele Bauern im Parlament?
Auch, weil ihr Alltag so stark von der Politik beeinflusst wird. Und gewählt werden sie von der nichtbäuerlichen Bevölkerung auch deshalb so oft, weil sie für viele sichtbar sind und wir das, was sie produzieren, täglich mehrmals in uns aufnehmen. Deshalb haben ja auch heute noch fast alle eine dezidierte Meinung darüber, wie die Landwirtschaft sein oder nicht sein sollte.
Immer wieder kommt die Kritik, die Landwirtschaft denke zu wenig ökologisch und tierwohlorientiert.
Wir sind eine zutiefst unökologische Gesellschaft, die aber ökologisch sein möchte. Weil dieser Widerspruch schwer auszuhalten ist, werden oft die anderen für die Defizite verantwortlich gemacht. Die Bauerndemos illustrieren das eindrücklich. Alle empören sich: Bauern, Medien und die Politik. Doch über die Bedingungen, unter denen Bäuerinnen und Bauern ökologisch wirtschaften könnten, will kaum jemand reden – und schon gar nicht darüber nachdenken.
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