Auf einen Blick
- Tsunami-Überlebende teilen ihre Erfahrungen 20 Jahre nach der Katastrophe
- Milanka Kurti Fankhauser verlor ihre Mutter und ihre Nichte, Heidi Widmer blieb, um zu helfen
- Fast eine Viertelmillion Menschen kamen bei dem Tsunami ums Leben
Der Tag, der alles veränderte, hätte idyllischer nicht beginnen können. Das Wasser war angenehm warm, kein Lüftchen wehte am Strand von Khao Lak. Wo gestern eine Weihnachtsfeier stattgefunden hatte, sammelte die zweijährige Anita mit ihrer Grossmutter und anderen Kindern wie jeden Morgen Muscheln. Anschliessend gings zum Frühstück.
Dass rund zwei Stunden zuvor, 85 Kilometer vor der Nordwestküste Sumatras, ein heftiges Seebeben stattgefunden hatte, wusste damals, am Morgen des 26. Dezembers 2004, niemand im thailändischen Ferienparadies. Tsunami war höchstens ein abstrakter Begriff, Frühwarnsysteme gab es noch keine, wer rechnet schon mit dem Schlimmsten?
Meterhohe Wasserwand
Als Milanka Kurti Fankhauser (59) die Wassermassen bemerkte, die sich zu einer sechs bis zehn Meter hohen Wand aufgetürmt hatten, war es zu spät. Anita, ihre kleine Nichte, hatte sich wenige Sekunden vorher mit der Grossmutter auf den Weg zur Toilette gemacht. Fankhauser erinnert sich, wie die beiden in der Hotelanlage verschwanden. Es war das letzte Mal, dass sie ihr Mami und die Tochter ihrer Schwester lebend sah.
Fankhauser wunderte sich über das Meer, das nicht mehr da war, und griff zum Fotoapparat. Doch ehe sie auf den Auslöser drücken konnte, wurde sie schon von der Flut erfasst. «Wie in einer Waschmaschine» habe sich das angefühlt, erzählt sie heute, 20 Jahre später, in ihrer Wohnung im Berner Seeland. «Da waren nur noch Geröll und ein schreckliches Rumoren.» Sie schwamm nicht, bekam nichts mit, liess es einfach geschehen – bis sie auf einer Terrasse im zweiten Stock eines Hotelgebäudes zu sich kam. Jemand musste sie aus der Welle gezogen haben. Sie war gerettet.
Benommen vom Schock und den Schmerzen eines Schlags, den sie in den Nacken gekriegt haben muss, machte sich Fankhauser auf die Suche nach ihren Liebsten. Alles war voller Schlamm, Scherben und Holztrümmer. In diesem Chaos war Fankhausers erster Gedanke: «Ich will nicht die Einzige sein, die überlebt hat.»
Dann hörte sie die Schreie bekannter Stimmen. Ihr Sohn und dessen Cousin waren in Sicherheit, die Schwester ebenso, aber von ihrer Mutter und der Nichte fehlte jede Spur. Der Tsunami, der in Indonesien, Sri Lanka, und Thailand auf Land traf und bei dem insgesamt fast eine Viertelmillion Menschen ums Leben kam, riss auch Fankhausers Familie auseinander.
Anitas Schicksal bleibt ungewiss
Im Juli 2004, ein halbes Jahr nach der Katastrophe, bekam sie einen Anruf aus Thailand. Man habe die Leiche ihrer Mutter anhand einer DNA-Probe identifizieren können. Sie reiste zurück, nahm an einer Zeremonie teil und brachte die Asche ihrer toten Mutter nach Hause.
Das Schicksal von Anita bleibt bis heute im Dunkeln. Die Familie klammert sich an den Gedanken, dass sie es vielleicht doch geschafft haben könnte und nun irgendwo, als nunmehr 22-jährige Frau, ein anderes Leben führt. Sana Brauner, Anitas Mutter, hat die Geschichte in einem Buch aufgeschrieben. Es heisst: «Die geliehene Tochter».
Ein anderes Leben führt seit dem Unglück auch Milanka Kurti Fankhauser. Davor war sie Stadtführerin und Rettungsschwimmerin. Der 26. Dezember 2004 markiert die Bruchlinie. Ihre Haare wurden weiss, versehrt an Seele und Körper, zog ein Jahr an ihr vorbei. Sie liess sich in Energiearbeit weiterbilden, wollte alles über Heilung erfahren. Und sie wollte wissen, wo die Seelen hingehen, wenn ein Mensch stirbt. Die neue Berufung half ihr, das Erlebte zu verarbeiten. Heute habe neben der Trauer auch Dankbarkeit Platz. «Darüber, dass ich überlebt habe und für meine Söhne da sein kann.»
Tod und Verzweiflung in Sri Lanka
Rund 2000 Kilometer Luftlinie westlich von Khao Lak, im Süden Sri Lankas, sass an diesem Dezembermorgen vor 20 Jahren die Aargauer Künstlerin Heidi Widmer in ihrem Guesthouse und schrieb. Normalerweise wäre sie längst aufgebrochen, wäre runter ans Meer gegangen, um dort wie immer zu schwimmen und Energie zu tanken. Aber weil es gerade so gut lief, arbeitete sie länger als sonst.
Als sie sich schliesslich doch auf den Weg machte, hörte sie hinter sich plötzlich Menschen rufen, Schweizer Piloten, die auf dem Hügel, wo auch Widmers Guesthouse stand, eine Villa bewohnten. Sie solle sofort zu ihnen heraufkommen, gestikulierten die Männer wie wild. Nach kurzem Zögern kehrte Widmer um. Und dann sah sie die Welle, die Menschen verschluckte, sah das Wasser wieder zurückweichen und den Horror, den es hinterliess. Dort, wo sie täglich im Meer schwamm, befand sich eine steile Felswand. «Ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich heute daran denke», sagt Heidi Widmer in ihrem Atelier in Wohlen AG, «vermutlich hätte ich keine Chance gehabt.»
Erst habe man gedacht, es handle sich um ein lokales Ereignis, dass nur ihre Bucht betroffen wäre. Widmer schnappte sich ihr Velo und fuhr fünf Kilometer weit in die Stadt Matara. Dort wurde ihr das ganze Ausmass der Katastrophe bewusst. Die Busse am Bahnhof lagen verstreut herum wie Kinderspielsachen, vom Riesenrad der letzten Vollmondparty blieb bloss noch grotesk ineinander verdrehter Stahl. Widmer fotografierte bunt leuchtende Saris, die in Bäumen hingen, eine Küchenuhr, deren Zeiger um 10.10 Uhr stehen geblieben waren. Sie sah Tote und Verletzte, Verzweiflung und Elend. «Stundenlang fuhr ich durch dieses Chaos und ich dachte, ich werde wahnsinnig.»
Während alle Ausländer, die konnten, Sri Lanka schnellstmöglich verliessen, entschied sich Heidi Widmer, zu bleiben. Freunde in der Heimat schickten ihr Geld, sie gründete damit ein kleines Hilfswerk, um die Not leidende Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen. Im Februar 2005 musste sie kurz zurück in die Schweiz, wo eine Ausstellung ihrer Kunst stattfand, anschliessend flog sie wieder nach Sri Lanka, um zu helfen.
Die Wellen werden weniger
Auch seither hat Heidi Widmer nie aufgehört zu arbeiten. Wenn sie heute Bilder des Tsunamis sehe, fühle sie sich sofort zurückversetzt an den 26. Dezember 2004. Das Erlebte sei tief vergraben in ihr, sagt Widmer, durch ihre Kunst komme es an die Oberfläche. Schicht für Schicht müsse sie aushalten, als wäre es ein inneres Diktat. Tagsüber greift sie zum Pinsel, in den Nächten zeichnet sie. Hunderte schwarze «Nachtbücher» reihen sich in ihrem Schrank. Eine Zeit lang waren auf den Seiten dunkle Gestalten zu sehen und viele Wellen. Heute sind es weniger.
Wie Milanka Kurti Fankhauser verspürt Heidi Widmer eine grosse Dankbarkeit, dass sie noch da ist. Freundinnen treffen kann und weiterarbeiten. Sie bereitet gerade eine Ausstellung vor, nächsten Februar ist Vernissage. Jetzt, da sich die Katastrophe zum 20. Mal jährt, fühle sie sich wie durch den Wind. Der Irrsinn jener Tage und Monate werde sie nie mehr loslassen. «Der Mensch kann zwar vergessen», sagt Heidi Widmer, «doch das hier sitzt zu tief in mir drin.»