«Die Katastrophe kann jederzeit über uns hereinbrechen»
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Anwohner Abdullah (62):«Die Katastrophe kann jederzeit über uns hereinbrechen»

64 Prozent Wahrscheinlichkeit
Kommt das Monster-Beben in Istanbul schon vor 2030?

19 Milliarden Dollar würde es kosten, die türkische Metropole erdbebensicher zu machen. Leisten kann sich Istanbul das nicht. Also harrt man der Dinge – im Wissen darum, dass alles bald vorbei sein könnte. Reportage aus der potenziellen Todeszone.
Publiziert: 13.05.2023 um 00:20 Uhr
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Tsunami-Warnschilder am Istanbuler Stadtstrand im Quartier Zeytinburnu.
Foto: Samuel Schumacher

Da draussen unter dem Wasser, da lauert die Gefahr. Sie ist viel schrecklicher als jedes Tiefseemonster, viel schlimmer noch als alles, was die Mega-Metropole Istanbul je gesehen hat. Zwei tektonische Platten reiben sich unter dem Marmarameer aneinander, nur acht Kilometer von der Küste weg. Sie bauen Spannung auf, jeden Tag. Irgendwann wird die Spannung zu gross. Dann kommt das Beben. Und der Tsunami.

Dann, befürchtet die Stadtverwaltung, könnten 90'000 Gebäude einstürzen, schlimmstenfalls Millionen von Menschen sterben. «Die Toten werden zu beneiden sein. Die Rettungsteams werden nicht zu den Verletzten durchkommen», prophezeite der türkische Immobilien-Unternehmer Ali Agaoglu (66) jüngst bei einer Podiumsdiskussion.

Das Horror-Szenario ist real. Das Istanbuler Erdbeben-Forschungszentrum am Kandilli-Observatorium beziffert die Wahrscheinlichkeit, dass das Mega-Beben bis im Jahr 2030 kommt, mit 64 Prozent. Dass es vor dem Jahr 2090 passiert, ist laut den türkischen Forschern praktisch sicher.

Die Tsunami-Warnung im Freizeitpark

Das weiss auch Abdullah (62). «Alle hier wissen das», sagt der pensionierte Segler und wirft seinen Angelköder ins azurblaue Nass. «Jetzt ist alles ruhig, siehst du ja. Aber das Beben kann jederzeit kommen. Und dann stürzt hier alles ein.» Hinter Abdullah spazieren Familien und ein paar Hündeler durch den hübschen Strandpark. Die Tsunami-Warnschilder, die vor den tödlichen Wellen warnen, scheinen niemanden zu stören.

Auch Abdullah nicht. Sein ganzes Leben hat er hier im Istanbuler Bezirk Zeytinburnu zugebracht. Er weiss, dass es diese Ecke hier besonders heftig treffen wird, wenn das Beben kommt. Aber er zuckt nur mit den breiten Schultern. Seelenruhig zeigt er mit der rechten Hand auf die neuen Wohntürme wenige Meter hinter der Strandpromenade. Mit der Linken hält er die Angelrute fest, dass ihm ja keine Makrele entwischt. «Unsere Baubranche ist korrupt. Hier sollten die Gebäude maximal drei Stockwerke hoch sein. Schau sie dir an: 15 Stockwerke, 25 Stockwerke, viel zu hoch», sagt Abdullah.

Das türkische Bauwesen steht seit jeher auf einem korrupten Fundament. Ein Beispiel: In der vom Erdbeben schwer getroffenen Stadt Antakya hat ein Bauunternehmer dem lokalen Fussballverein 200'000 Dollar gespendet. Der Bürgermeister schaute grosszügig weg, als der Bau dann überhaupt nicht den vorgelegten Bauplänen entsprach, wie die «New York Times» enthüllt hat. Der Bau ist beim Erdbeben eingestürzt und hat hunderte Menschen lebendig begraben.

In der Türkei darf sich jeder Bauleiter schimpfen

Solche Beispiele gibt es zuhauf. Bauingenieure erhalten in der Türkei kaum je eine praktische Ausbildung. Eine Bauverordnung für Hochhäuser gibt es erst seit vier Jahren. Und jeder, der sich einen Eintrag im Handelsregister leisten kann, darf sich Bauleiter schimpfen. Mit Blick auf das drohende Erdbeben in der Millionen-Metropole sagte der Erdbebenforscher Cenk Yaltirak (60) von der Technischen Universität Istanbul deshalb kürzlich an einer Informationsveranstaltung: «An alle, die in Istanbul leben: Geht fort von hier, wenn euer Haus nicht euer Sarg werden soll.»

Im Istanbuler Stadtquartier Zeytinburnu zeigt sich der architektonische Wildwuchs deutlich. Abbruchreife Häuser stehen neben modernen Neubauten. Hinter glänzenden Fassaden schauen alte Gemäuer hervor. Istanbuls Bürgermeister schätzt, dass die Stadt 19 Milliarden Franken investieren müsste, um die betroffenen Quartiere wirklich erdbebensicher zu machen. Das kann sich Istanbul nicht leisten. Was den Menschen bleibt, ist die Hoffnung, dass das Unvermeidbare noch lange nicht kommt.

Diese Hoffnung hatten die Leute auch im Osten der Türkei – bis im Februar. Dann verloren fast sechs Millionen Menschen ihr Obdach. Rund 200 Millionen Tonnen Schutt liegt bis heute herum: zehnmal so viel wie nach der kompletten Zerstörung der Stadt Warschau im Zweiten Weltkrieg. Die Türkei schätzt, dass der Wiederaufbau rund 104 Milliarden Dollar kosten wird. Präsident Recep Tayyip Erdogan (69) verspricht, dass die Häuser bis in einem Jahr wieder stehen.

Erdbeben kostet Erdogan wohl kaum Stimmen

Das ist illusorisch. Und trotzdem: Das Erdbeben dürfte sich weniger stark auf die Wahlen auswirken, als man denkt. In den von der Regierung kontrollierten Medien wird das Beben totgeschwiegen. Die zumeist religiösen Erdogan-Anhänger machen eher Gott als den Präsidenten verantwortlich für die Misere. Und viele der Erzürnten, die ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, können bei den Wahlen gar nicht mitmachen, weil sie weit weg von ihren registrierten Heimatorten in Zeltstädten ausharren – allzu oft ohne gültige Papiere.

Mit dem Bauen sei das halt so eine Sache, sagt Abdullah, der Fischer am Strand von Zeytinburnu. «Wenn die Gebäude erdbebensicher gemacht werden, dann steigt die Miete, dann kann sich das hier niemand mehr leisten – ich jedenfalls nicht», sagt er. Da fragt sich, was besser ist: eine Geisterstadt – oder eine Stadt der Toten? Abdullah lässt die Frage stehen. Erst soll jetzt mal eine Makrele anbeissen. Dann schaut er weiter.

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