Zwischen Horror und Hoffnung
Schweizer Arzt Martin Schneider über seinen Einsatz in Gaza

Mitten im Kriegsgebiet im Gazastreifen betreibt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ein Feldspital. Der Schweizer Arzt Martin Schneider war dort im Einsatz. Was er erlebt hat.
Publiziert: 05.08.2024 um 17:23 Uhr
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Aktualisiert: 05.08.2024 um 17:45 Uhr
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Martin Schneider vor dem Hauptsitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf. In den vergangenen 25 Jahren war der Arzt in mehreren Kriegsgebieten im Einsatz.
Foto: Kurt Reichenbach

Martin Schneider hält sein Stethoskop in den Händen. Der Arzt aus Genf besitzt es seit über 20 Jahren – und hatte es bei vielen seiner Einsätze in Kriegsgebieten dabei, etwa in Afghanistan, im Südsudan oder in der Zentralafrikanischen Republik. Zuletzt auch im Gazastreifen. Von dort ist er kürzlich zurückgekehrt. «So eine Hochtechnisierung des Krieges habe ich vorher nie erlebt. Das moderne Kriegsgerät macht den Konflikt unvorhersehbar.»

Mehr als eine Million Menschen müssen in den vergangenen zehn Monaten vom Norden des Gazastreifens in den Süden flüchten. In Rafah, einer Stadt an der ägyptischen Grenze, leben sie unter erbärmlichen Bedingungen in überfüllten Zeltlagern. Anfang Mai startet die israelische Armee eine Offensive auf Rafah. Wieder werden diese Menschen vertrieben – ohne zu wissen, wo sie überhaupt hinsollen.

Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

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Die Männer, Frauen und Kinder sind geplagt vom Krieg und von Krankheiten. Im sandigen Nirgendwo fehlt es an Wasser und Essen. Das Gesundheitssystem ist zu grossen Teilen zerstört. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz eröffnet darum Anfang Mai in Rafah ein Feldspital mit 60 Betten. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) und elf weitere nationale Rotkreuz-Gesellschaften unterstützen den Einsatz mit Fachpersonal, medizinischen Geräten und Medikamenten. Längst ist das Spital am Anschlag, bis zu 800 Patienten werden hier ambulant behandelt – jede Woche! Die Hälfte von ihnen Frauen, ein Drittel Kinder.

Nur das Nötigste

Von Mitte Mai bis Mitte Juni ist Martin Schneider in diesem Feldlazarett im Einsatz. Der Facharzt für Innere Medizin steht seit einigen Jahren auf einer Liste des SRK für kurzfristige Einsätze mit wenig Vorbereitungszeit. Mit 15 anderen Freiwilligen fährt er von Jordanien über Israel via Kerem Schalom in den Süden des Gazastreifens. Als er das Feldspital zum ersten Mal sieht, denkt er: «Wenigstens gibt es genug Platz zwischen den Zelten, und das Nötigste ist da.» Ganz pragmatisch.

Die Ärztinnen und Ärzte des Feldspitals (weisse Zelte) haben seit Mai 12'000 Konsultationen und mehr als 500 Operationen durchgeführt.
Foto: Redcross

Das Spital hat erst zwei Wochen zuvor geöffnet. Wasserversorgung, Abfallentsorgung, Stromleitungen – das alles in einem Kriegsgebiet aufzubauen, ist ein Kraftakt. Und eine Aufgabe, die nie endet: Die Apotheke braucht immer wieder Medikamente, die Chirurgen neue Instrumente und die Wäscherei genügend Waschmittel. «Man merkte den Logistikern an, dass sie müde waren von diesem Aufbau.»

Martin Schneider ist zuständig für ambulante Patienten. Bis zu 300 von ihnen kommen jeden Tag. Häufig mit Atemwegsinfektionen, Hautkrankheiten, Magen-Darm-Problemen. «Auf sehr engem Raum und ohne Wasserversorgung verbreiten sich Krankheiten viel schneller.» Oft kommen auch ältere Menschen ins Spital, die mit chronischen Krankheiten kämpfen: Bluthochdruck, Herzleiden, Lungenerkrankungen. Und dann gibt es die Patientinnen und Patienten mit Kriegsverletzungen.

Besonders herausfordernd für das Spital ist es, wenn sehr viele Verletzte gleichzeitig eingeliefert werden. Dafür gibt es das Triage-System. Mit diesem entscheiden die Ärztinnen und Ärzte, welche Patienten prioritär behandelt werden. «Es hängt oft von der Verletzung und den Behandlungsmöglichkeiten ab», sagt Schneider. «Wenn wir einen Patienten mit Schussverletzung im Kopf und einen mit Schussverletzung im Bauch haben, behandeln wir den Patienten mit Bauchverletzungen. Weil wir keine Neurochirurgie haben, können wir beim anderen Patienten nur die Schmerzen lindern und etwas gegen die Angst geben – bis er stirbt.»

Martin Schneider ist gebürtiger Berner, lebt seit über 20 Jahren in Genf.
Foto: Kurt Reichenbach

Qualvolle Entscheidungen

Auch Martin Schneider ist für den Triage-Dienst eingeteilt, muss entscheiden, wer behandelt wird. «Das ist alles andere als einfach, wenn man schreienden und weinenden Patienten gegenübersteht. Wir haben nicht viel Zeit, die Entscheidung kann schwere Konsequenzen für den Patienten haben.» Damit umzugehen, ist belastend. Dafür gibt es eine Psychologin im Spital. Wie er selber das bewältigt, will Martin Schneider nicht verraten. «Jeder findet eine Methode für sich.»

Einen Funken Hoffnung bringt Sanad am 21. Mai in das Feldspital. Der kleine Bub – sein Name bedeutet «Unterstützung» – ist das erste Kind, das hier auf die Welt gekommen ist. Seine Mutter Reem Abu Mousa ging zuerst in andere Spitäler, wurde aber wegen Mangels an medizinischem Personal nicht aufgenommen.

Das Feldspital ist so eingerichtet, dass es mindestens drei Monate autonom funktionieren kann – also genügend Material für diese Zeit bereitsteht. «Das Problem ist, dass wir nie wissen, welche Patienten eintreffen und was diese benötigen.» Medikamente zu bekommen, ist schwierig. Manchmal kann das Gesundheitsministerium helfen, manchmal tauscht man mit anderen Hilfsorganisationen vor Ort.

Das erste Baby, das im Feldspital geboren wurde: Sanad heisst es, das bedeutet «Unterstützung».
Foto: Redcross

Doppelte Belastung

Der Alltag im Feldspital ist hart. Schneider arbeitet fast jeden Tag. «Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was die einheimischen Berufskolleginnen und -kollegen leisten. Viele von ihnen mussten selber fliehen, haben Familie oder Freunde verloren.» Sie leben in Zelten im Dörfchen Al-Mawassi, wo es ihnen an allem fehlt. Stellenweise teilen sich bis zu 1000 Menschen eine Toilette. Für Wasser und Holz müssen sie kilometerweit laufen.

In den Arbeitspausen sitzt Martin Schneider oft mit diesen Berufskollegen zusammen. Manchmal erzählen sie ihm von ihrer Flucht und von dem, was sie zurücklassen mussten. «Es ist kaum zu glauben.» Und oft sind auch sie diejenigen, die sich die Geschichten der Patientinnen und Patienten anhören. «Das ist sehr belastend für sie.»

Nun ist Martin Schneider zurück in der Schweiz. «Ich habe gemischte Gefühle, die Menschen zu verlassen, mit denen ich so gut zusammengearbeitet habe.» In der Schweiz hat er Ferien gemacht, mit Freunden in den Walliser Bergen. «Ich glaube nicht, dass man mit solchen Einsätzen die Welt rettet, aber es hilft vielleicht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.»

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