Als die Pflege-Initiative im November 2017 eingereicht wurde, hätte kaum jemand einen Rappen darauf gewettet, dass sie bei den Stimmberechtigten zum Fliegen kommt.
Die letzte gesundheitspolitische Initiative von ähnlicher Tragweite scheiterte vor sieben Jahren mit 71 Prozent Nein. Damals ging es um die Einheitskasse. Nun liegen die Zustimmungswerte gemäss einer aktuellen SRG-Umfrage bei sensationellen 78 Prozent – nur 15 Prozent der Stimmberechtigten sind dagegen.
Damit hat die Pflegereform beste Aussichten, die erste von einer Gewerkschaft lancierte Initiative zu sein, die angenommen wird. Sogar ein weiterer Rekord liegt in Reichweite: Den höchsten Ja-Stimmen-Anteil in der Geschichte der modernen Schweiz verzeichnete 1993 die Volksinitiative für einen arbeitsfreien 1. August – mit 83,8 Prozent, auf Platz zwei liegt eine Initiative aus dem Jahr 1921 mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 71,4 Prozent.
Ein Drittel der neuen Fachkräfte kehrt dem Job den Rücken
Noch sind es fünf Wochen bis zum Urnengang. Für Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), gilt kurz vor dem Ziel: jetzt bloss nicht patzen. «Wichtig ist, dass alle, die heute Ja sagen, auch abstimmen. Wir brauchen auch das Ständemehr.»
Dass die Schweizer Bevölkerung für die Pflegenden Partei ergreift, hat viel mit Corona zu tun. Die Bilder von weinenden und ausgelaugten Intensivpflegerinnen haben sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Dennoch ist es nicht nur ein unberechenbares Virus, das der Vorlage Schub verleiht. Klar ist auch: Geht es weiter wie bis jetzt, fehlen gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium in zehn Jahren 65'000 Pflegefachkräfte.
Laut Jobradar waren im dritten Quartal dieses Jahres mehr als 11'700 Stellen im Pflegebereich unbesetzt. Und noch ein verstörender Wert: Kurz nach Abschluss der Ausbildung kehrt ein Drittel der Fachkräfte dem Job den Rücken.
Zynische Debatte im Parlament
SonntagsBlick hat mit rund einem Dutzend Pflegerinnen gesprochen (siehe «Mehr zum Thema»). Sie kritisieren die «prekären Arbeitsbedingungen», die «dünne Personaldecke», dass kaum Zeit für die Ausbildung bleibe. Sie warnen vor der Gefahr, dass die Fehlerquote bei Behandlungen steigt, wodurch «das Wohl und die Sicherheit der Patienten» gefährdet seien.
Die Chefpflegerin eines grossen Spitals in der Ostschweiz beklagt vor allem die fehlende Autonomie: Will sie einem Patienten eine Salbe einreiben, Stützstrümpfe anziehen oder ihn anderweitig unterstützen, braucht sie die Einwilligung eines Arztes: ein Zeichen der Geringschätzung, die dem Pflegepersonal vielfach grundsätzlich entgegenschlägt. Bei einem Ja zur Initiative würden Pflegefachleuten mehr Kompetenzen eingeräumt.
Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab – zumeist mit ordnungspolitischen Begründungen. Dass die Anliegen einer einzelnen Berufsgruppe nicht per Bundesverfassung geregelt werden sollen, mag als Argument noch angehen. Wie zynisch die parlamentarische Debatte jedoch streckenweise vonstatten ging, definitiv nicht mehr.
Historischer Sieg in Aussicht
Mitten in der Pandemie, im Juni letzten Jahres, begegnete der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann (SVP) dem Hinweis auf die Unverzichtbarkeit der Pflegerinnen mit dem flapsigen Spruch: «Es gibt jede Menge systemrelevante Berufe. Vielleicht sind sogar wir Politiker am Schluss systemrelevant.» Sein Zuger Ratskollege Peter Hegglin (Mitte) fand: «Heute können weder die Personalsituation noch die Löhne Anlass zu einer Aufwertung der Pflege sein.»
Inzwischen hat der Wind spürbar gedreht, besonders deutlich bei Mitte und GLP. Im Parlament wollten die Grünliberalen von der Initiative noch nichts wissen. Vor einer Woche schwenkte die Partei um: Sie unterstützt nun offiziell die Pflege-Initiative. Ähnlich das Bild bei der einstigen CVP: Bis auf zwei Stimmen hatten die Mitte-Nationalräte der Initiative ursprünglich ihre Unterstützung versagt. Mittlerweile haben die Delegierten der Partei Stimmfreigabe beschlossen.
Die Pflegerinnen und Pfleger dürfen jetzt schon für sich reklamieren, das politische Establishment eines Besseren belehrt zu haben. Sie sind mit ihrem Anliegen auf dem besten Weg zu einem historischen Sieg.
Drei Pflegefachfrauen berichten