Zu Ihrem Amt gehört das Einweihen von Strassen und Plätzen, die Eröffnung von Festivals …
Corine Mauch: Das ist nicht meine Haupttätigkeit. Sehr viel öfter leite ich Stadtratssitzungen …
Und jetzt plötzlich dieser Gegenwind.
Ich nehme an, Sie reden von der Bührle-Debatte. Wir hatten ja 2017 seitens Stadt und Kanton die Universität beauftragt, eine wissenschaftliche Grundlage auszuarbeiten, um die Kontextualisierung der Ausstellung der Werke aus der Bührle-Sammlung umsetzen zu können.
Der sogenannte Leimgruber-Bericht.
Eine Kontextualisierung ist für uns unabdingbar, wenn die Sammlung ins Museum kommt, das haben wir schon 2012 bei der Abstimmung über den Kunsthauskredit gesagt. Mit dieser Studie konnten wir eine Grundlage erarbeiten – wobei nichts radikal neues zum Vorschein kam. Man wusste, dass Emil Bührle ein Waffenfabrikant war, man wusste, dass er auch Nazi-Deutschland beliefert hatte. Aber mit neuem Archivmaterial konnte Professor Leimgruber eindrücklich und noch vertiefter aufzeigen, wie eng damals alles verflochten war: Die Waffenproduktion, Zürich, die Kunstgesellschaft, die Schweiz, der Bundesrat. Wir wussten und hofften, dass eine Debatte lanciert würde. Was uns heute überrascht, ist die enorme Heftigkeit.
Das Magazin «Tachles» etikettiert Sie als «Komplizin» und wirft Ihnen einen «Pakt mit dem Teufel» vor. Sie hätten Zürich zu «Europas Hauptstadt der Geschichtsvergessenheit» gemacht.
Was Sie zitieren, gehört zu den heftigeren Teilen der Debatte. Diese müssen wir führen. Sie haben einen Teil der jüdischen Seite angesprochen. Wir sind in einem guten, konstruktiven Austausch mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und mit der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ). Auch zwischen dem «Tachles» und dem SIG gibt es bekanntlich Diskussionen. Die Zunft der Historikerinnen und Historiker ist ebenfalls nicht einer Meinung. Es läuft eine sehr breite Debatte mit vielen Beteiligten. Was auch damit zu tun hat, dass wir uns in der Schweiz, in Zürich noch zu wenig mit all unseren Verflechtungen im Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt haben.
Seit 2009 steht SP-Politikerin Corine Mauch (61) Zürichs Stadtregierung vor. In den USA geboren, wuchs Mauch in Boston und Oberlunkhofen AG auf. Die ETH-Agrarökonomin und Politologin kam 1999 ins Zürcher Stadtparlament und übernahm 2008 das Fraktionspräsidium. Mauch lebt im Quartier Unterstrass mit der Musikerin Juliana Maria Müller in einer eingetragenen Partnerschaft. Am 13. Februar stellt sie sich der Bevölkerung für eine weitere Amtszeit zur Verfügung.
Seit 2009 steht SP-Politikerin Corine Mauch (61) Zürichs Stadtregierung vor. In den USA geboren, wuchs Mauch in Boston und Oberlunkhofen AG auf. Die ETH-Agrarökonomin und Politologin kam 1999 ins Zürcher Stadtparlament und übernahm 2008 das Fraktionspräsidium. Mauch lebt im Quartier Unterstrass mit der Musikerin Juliana Maria Müller in einer eingetragenen Partnerschaft. Am 13. Februar stellt sie sich der Bevölkerung für eine weitere Amtszeit zur Verfügung.
Der Hauptvorwurf an Sie lautet, dass Sie sich zu lange auf die Provenienzforschung der Bührle-Stiftung verlassen hätten. Ihr Stadtratskollege Richard Wolff von der Alternativen Liste haut in der «Wochenzeitung» in die gleiche Kerbe: Sie hätten im Vorstand der Zürcher Kunstgesellschaft, der Trägerschaft des Kunsthauses, wo die öffentliche Hand die Mehrheit hat, viel eher etwas tun müssen.
Gesellschaftliche Debatten verändern sich. Aus heutiger Sicht kann man allenfalls sagen: Wir hätten früher aktiv werden sollen. Aus damaliger Sicht hingegen ist die Sachlage komplizierter. So hatten, als 2012 über den Kunsthauskredit gestritten wurde, auch prominente Stimmen, die sich heute an vorderster Front an der Debatte beteiligen, noch nicht Provenienzen im Fokus, sondern rühmten vornehmlich die Chancen, die die Ausstellung bringt. Ich erachte das nicht als Vorwurf. Aber ich stelle fest, dass eine gesellschaftliche Debatte nicht stehen bleibt. Wir befinden uns heute, zehn Jahre später, an einem anderen Punkt.
Dennoch: Sie haben sich bei einer derart wichtigen Sammlung mit so brisanter Geschichte zehn Jahre lang nicht um die Provenienzforschung gekümmert.
Das trifft nicht zu. Als wir 2017 der Uni den Auftrag erteilten, hat man vor allem die Umstände klären wollen, wie Emil Bührle zu seinem Vermögen gekommen war. Es ging bei dieser Studie nicht um Provenienzforschung – denn die Stiftung Bührle mit Direktor Lukas Gloor arbeitete seit 15 Jahren als eine der ersten Schweizer Privatstiftungen ihre Werke auf ihre Provenienz hin fundiert auf. Wir wussten, dass Lukas Gloor diese Arbeit, die er laut Fachleuten nach hohen wissenschaftlichen Standards betrieb, bis zur Überführung in den Chipperfield-Bau abschliessen würde. Nach der Eröffnung haben wir eine neue Situation. Die Glaubwürdigkeit der geleisteten Arbeiten wird infrage gestellt, darum braucht es ihre Evaluation. Aus heutiger Sicht finde ich: Ja, wir hätten anders agieren können. Die Debatte kann jetzt nur gewinnen, wenn sie sachlicher wird.
Jetzt wird sogar Ihr Onkel bemüht, der ehemalige Oerlikon-Bührle-Chef Hans Widmer, ein Vertrauter der Bührles. Dadurch seien Sie schon familiär voreingenommen.
Ich muss in aller Deutlichkeit sagen, dass es falsch ist, dass ich einen unkritischen Zugang zur Sammlung Bührle habe. Sonst hätten wir ja nicht die Studie und vertiefte Forschung in Auftrag gegeben. Sonst würde ich nicht fordern, dass die bisherige Forschung evaluiert wird. Auch ist etwa auf der Wikipedia-Seite zu mir erwähnt, dass Hans Widmer mein Onkel ist, das ist alles andere als ein Geheimnis. Wir mögen uns gut, aber politisch haben wir das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Ich gehe ganz sicher nicht, wenn es um politische Positionen geht, bei meinem Onkel Rat holen.
Zur Verhärtung trägt auch die Kunsthaus-Leitung bei. Da war der ruppige Medienauftritt von Museumsdirektor Christoph Becker am 15. Dezember. Und die «NZZ am Sonntag» berichtete von widersprüchlichen Aussagen Beckers zum Engagement des Präsidenten des World Jewish Congress. Was sagen Sie dazu?
Wir sind in kontinuierlichem Kontakt mit sehr zahlreichen Akteuren, zum Beispiel mit den jüdischen Gemeinden, der Wissenschaft, Bund und Kanton, der Stiftung und auch mit dem Kunsthaus-Präsidium. Als wir 2017 die Studie in Auftrag gegeben haben – mit einem Steuerungsausschuss, was wir heute nicht mehr machen würden, auch wenn die Forschungsfreiheit immer gewährleistet war –, haben wir immer zum Ausdruck gebracht, dass wir uns vom Kunsthaus einen proaktiven Umgang mit der Thematik wünschen. Dass die Leitung vorbildlich das Thema anpackt, auf vorbildliche Art darstellt und die Debatte stärkt. Da sind unsere Erwartungen leider nicht erfüllt worden. Was das proaktive Verhalten betrifft, das wir uns gewünscht hätten, blieb das Kunsthaus unter unseren Erwartungen.
Sie wollen eine externe Evaluation der Bührle-Provenienzforschung. Wo steht der Prozess?
Wir sind sehr intensiv im Gespräch. Entschieden ist noch nichts. Wichtig ist, dass das sorgfältig gemacht wird. Das Hauptziel muss sein, die angekratzte Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Darum ist es wichtig, da auch Kritikerinnen und Kritiker einzubinden. Mir schwebt eine sehr breite Art und Weise unter Einbezug auch der kritischen Stimmen vor, auch der jüdischen Seite. Entscheidend ist, wer mitmacht und vor allem, dass die Unabhängigkeit gegeben ist. Mein Ziel ist, dass im ersten Quartal 2022 das Konzept steht und die eigentliche Arbeit beginnen kann.
Kurz zusammengefasst: Die Sammlung bleibt, aber mit veränderter Dokumentation?
Wir sagten schon immer, dass die Dokumentation nichts Statisches ist. Die blieb bislang unter unseren Erwartungen und muss sich weiterentwickeln. Eine Dokumentation muss etwas Lebendiges sein, in das neue Erkenntnisse laufend einfliessen. Ein aktuelles Stichwort ist Zwangsarbeit.
Interessanterweise hört man aus Ihrem Departement, dass es zum Bührle-Streit viel weniger Rückmeldungen aus der Öffentlichkeit gibt als zu anderen identitätspolitischen Themen, etwa zur Debatte über die Häusernamen.
Das ist in der Tat so. Auslöser war das Thema rassistische Zeitzeugen im öffentlichen Raum. Da haben wir sehr viele Zuschriften bekommen von Leuten, die im Alltag Diskriminierung erfahren. Und auf die dann etwa eine Inschrift oder ein Bild an einem Haus demütigend wirkt. Da geht es um Erinnerungskultur.
Gibt es noch andere Felder als Bührle-Sammlung und Häusernamen?
Ein weiteres Thema ist die Frauengeschichte. Von 38 öffentlichen Denkmälern in Zürich sind ganze zwei Frauen gewidmet. Bei Strassen- und Platznamen, die realen Personen gewidmet sind, geht es bei 87 Prozent um Männer. Die gesellschaftliche Frage lautet: Woran erinnern wir uns? Und woran nicht? Wir wollen eine öffentliche Auseinandersetzung. Primär wollen wir eine Kontextualisierung. Bei zwei Häuserinschriften haben wir jedoch beschlossen, sie abzudecken. Auf diesen Entscheid des Stadtrats gab es übrigens wiederum sehr viele Rückmeldungen von Leuten, die sagten: Ihr nehmt uns unsere Geschichte weg. Das ist aber nicht der Fall, wir decken die Inschriften nur ab.
Sie werden jetzt aber nicht draufloscanceln? Darf der bronzene Hans Waldmann weiter am Stadthausquai auf seinem Ross sitzen?
Es ist enorm wichtig, mit den Zeugen der Vergangenheit sehr sorgfältig umzugehen. Ich kann darum keine pauschale Antwort geben. Wir hatten in der Stadtverwaltung bislang keine Strategie in dem Bereich. Darum haben wir das Koordinationsgremium Erinnerungskultur eingerichtet, an dem sehr viele Stellen beteiligt sind. Das wird von meinem Stab geleitet. Bis Ende 2023 soll ein Konzept für den langfristigen Umgang mit Erinnerungskultur vorliegen.
So schnell wird die Rudolf-Brun-Brücke also nicht zur Emilie-Lieberherr-Brücke?
Solche Einzelfälle wird es vielleicht geben. Es gibt ja auch diese Strassen, die nach einem Frauennamen benannt sind. Getrudstrasse, Bertastrasse … bei den Männernamen sind die jeweils einer konkreten Person zugeordnet. Nun hat man damit begonnen, solche Strassennamen einer konkreten weiblichen Person zuzuführen.
Dass Rosa Luxemburg einst hier doktoriert hatte, kriegt ein Besucher Zürichs kaum mit. Soll sich so was ändern?
Das ist ein gutes Beispiel. Wir spüren das auch durch Anliegen aus der Bevölkerung und durch Vorstösse aus dem Parlament. Da haben wir gesellschaftlich noch blinde Flecken. Ein anderes Thema ist die koloniale Vergangenheit. Da haben die Schweiz und Zürich über ihre wirtschaftlichen Beziehungen enorm vom Kolonialismus profitiert. Es gibt den Wunsch, dass wir ein Mahnmal für die Hexenverfolgung machen. Der Landesstreik ist ein anderes Thema. Oder eine Erinnerungsstätte für die offene Drogenszene, da gibt es ein Projekt. Ein neueres Beispiel ist ein Denkmal für Köbi Kuhn, da wurde eine Plakette an seinem Haus angebracht. Erinnerungskultur ist ein sehr breites Feld.
Sie reden von Erinnerungskultur, wollen aber das Schauspielhaus schleifen, im Zweiten Weltkrieg Zürichs antifaschistisches Bollwerk schlechthin.
Sie stellen die Frage nach dem Erinnerungsort Pfauen. Wie pflegen wir die Erinnerung an die sehr bedeutsame Vergangenheit der Pfauenbühne? Unbestritten ist, dass der Pfauen saniert werden muss, und zwar dringend. Der Zustand ist sehr schlecht. Irgendwann schliesst uns die Feuerpolizei den Laden.
Sanieren bedeutet ja nicht zwingend abreissen und neu bauen.
Wenn man saniert, werden neue Auflagen wirksam, da geht es um Brandschutz und Fluchtwege. Wenn man bloss eine einfache Sanierung wählen würde, dann würde der Betrieb noch viel stärker eingeschränkt. Wir mussten also abwägen: Was ist Erinnerungskultur? Ist es einfach die physische Bausubstanz? Oder dass an dem Ort weiterhin lebendiges, zeitgemässes Theater in einer Guckkastenbühne
betrieben werden kann? Dazu kommt, dass die Bühne, die ja der zentralste Erinnerungsort wäre, in der Vergangenheit bereits verändert wurde und nicht mehr original ist. Das, woran wir uns erinnern wollen, etwa das jüdische Emigrantentheater, fand auf der Bühne statt, nicht im Saal. Und die Fassade bleibt ohnehin.
In einer Parlamentsdebatte über den Kredit für den Kunsthaus-Erweiterungsbau sagten Sie, über Kunst lasse sich vortrefflich streiten. Sie scheinen immer noch dieser Meinung zu sein.
So ist es!