Der unbändige Kinderwunsch von Schweizer Ehepaaren sorgte jahrzehntelang dafür, dass in anderen Teilen der Welt Babys von ihren Müttern getrennt wurden. Jetzt zeigt eine neue Forschungsarbeit im Auftrag der Kantone Zürich und Thurgau: Indien war in den 1980er- und 1990er-Jahren das wichtigste Herkunftsland von Babys, die aus dem Ausland zu Ehepaaren in die Schweiz kamen.
Bisher waren vor allem die Adoptionen aus Sri Lanka ein Thema, mehrere wissenschaftliche Untersuchungen brachten einen eigentlichen Kinderhandel zum Vorschein und belegten grosse gesetzliche Unregelmässigkeiten.
Nun offenbart eine Studie der Universität St. Gallen und der Berner Fachhochschule eine ganz neue Dimension: Zwischen 1979 und 2002 wurden gesamthaft 2278 Babys aus Indien in die Schweiz gebracht.
Wo sind die Mütter?
Das Fazit der neuen Untersuchung: «Im Verfahren von der Aufnahme indischer Kinder bis zum Adoptionsentscheid wurden zahlreiche gesetzliche Vorgaben missachtet, und bis heute bleibt offen, woher die Kinder kamen und wer ihre Mütter waren.»
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Das Forschungsprojekt unter der Leitung der Ethnologin Rita Kesselring der Uni St. Gallen untersuchte im Zeitraum 1973 bis 2002, wie Kinder aus Indien in die Schweiz vermittelt wurden, wie die Adoptionsentscheide zustande kamen und wie sich die neue Familie aus gesellschaftlicher Sicht entwickelte (zum Beispiel: der Umgang mit Rassismus).
Erschreckende Resultate
Das Ergebnis ist ein «komplexes Geflecht, das geprägt war von unerfülltem Kinderwunsch von Paaren, finanziellen Interessen, einer fraglichen Rechtspraxis, mangelhaftem Kinderschutz und von Behördenversagen».
Von den 2278 Kindern, die zwischen 1979 und 2002 in die Schweiz zur Adoption vermittelt wurden, kamen 256 in den Kanton Zürich und 30 in den Thurgau. In einer Stichprobe untersuchte das Forschungsteam 18 Fälle aus dem Kanton Zürich und sechs aus dem Thurgau.
Das Ergebnis ist erschreckend: «Bei der Einreise fehlten in allen Fällen ausgewiesene Personalien zum Kind und zu den Eltern bzw. zu den Müttern», heisst es im Bericht. Zudem seien Pflegekinderbewilligungen für die Aufnahme und die spätere Adoption der Kinder in vielen Fällen zu spät – also erst nach der Einreise – ausgestellt worden.
Behörden schauten weg
Das ist nicht alles: Gemäss der neuen Studie waren die meisten Kinder während des Pflegeverhältnisses vormundschaftlich ungenügend vertreten.
Und noch schlimmer: Zürcher Bezirksräte und der Thurgauer Regierungsrat stimmten Adoptionen zu, ohne dass ihnen die vom Gesetz explizit verlangten Verzichtserklärungen der Mütter vorlagen. Die Analyse von 48 Adoptionen (Zürich: 18, Thurgau: 30) zeigt, dass diese indischen Dokumente durchgehend fehlten.
Das Forschungsteam um Rita Kesselring kommt zum denkwürdigen Fazit: «Der Befund der systematisch fehlenden Verzichtserklärungen weist darauf hin, dass diese Dokumente auch bei Indien-Adoptionen in anderen Kantonen fehlen könnten.» Diese Erkenntnis stelle die Rechtmässigkeit solcher Adoptionsentscheide infrage.
Ein lukratives Business
Die Indien-Adoptionen waren offenbar auch ein gutes Geschäft. Involviert war auch Alice Honegger, die jahrzehntelang Babys zur Adoption vermittelte (unter anderem aus Sri Lanka).
Aktiv waren gemäss Studie sechs weitere Vermittlungsstellen: Adoption Unity von Christina Inderbitzin (ZH), der Verein Adoption International (TG/BE), Terre des hommes (VD), Helga Ney (VD), Divali Adoption Service von Jo Millar (GE) und das Seraphische Liebeswerk (SO).
Harte Worte wählen die Forscherinnen zur Rolle des Kantons Zürich: «Das Jugendamt des Kantons Zürich nahm seine Aufsichtspflicht nicht wahr.» Das Jugendamt liess zu, dass die Vermittlerin Christina Inderbitzin jahrelang ohne Bewilligung indische Kinder in die Schweiz vermittelte.
Zürich sei sogar darüber informiert gewesen, dass ihr Kooperationspartner in Indien, der auch Vertrauensanwalt des schweizerischen Generalkonsulats in Bombay (heute Mumbai) war, «Kinder für ein lukratives Geschäft unrechtmässig durch ganz Indien transferierte».
Traurige Schicksale
Die leiblichen Mütter der Kinder, die in die Schweiz vermittelt wurden, sind in den allermeisten Fällen unbekannt und auch unsichtbar. Im Forschungsbericht heisst es dazu: «So, wie die leiblichen Mütter aus den Dokumenten verschwanden, so taten sie dies auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung.»
Die Akteurinnen und Akteure im indischen Adoptionswesen hätten über die Perspektiven der Mütter, die sich von ihren Kindern trennten, weitgehend geschwiegen. Hintergrund ist die Stigmatisierung von ledigen Müttern, die sozial geächtet waren und letztlich auch zu ihrem eigenen Schutz über ihr Schicksal und dasjenige ihrer Kinder schwiegen.
Auch Armut, Krankheit oder das weibliche Geschlecht des Kindes spielten eine Rolle. Oder gebrochene Eheversprechen, Vergewaltigungen und erschwerte Zugänge zu Abtreibungen.
Rechtmässigkeit der Adoptionen fraglich
An der Präsentation der Untersuchungsergebnisse kommt das Forschungsteam zum Schluss, die Rechtmässigkeit von Adoptionen, die ohne vorliegende Verzichtserklärung der indischen Eltern beziehungsweise Mütter getroffen worden sind, müsste grundsätzlich überprüft werden.
Die Forscherinnen regen zudem an, dass eine institutionalisierte, interdisziplinär zusammengesetzte Taskforce auf Anfragen von adoptierten Personen Dokumente prüfen und sie in der Herkunftssuche unterstützen solle.
Und: Die Schweiz müsse mit Indien klären, wie Betroffene Einsicht in ihre indischen Gerichtsakten bekommen können, um ihr Recht auf Herkunftswissen geltend zu machen.
Beim Verein Back to the Roots, in dem sich adoptierte Personen aus Sri Lanka zusammengefunden haben, lösen die Resultate des Forschungsberichts «Bestürzung, Ohnmacht und Wut» aus. Auch diese Studie zeige letztlich den «dringenden Handlungsbedarf».
Wenn Betroffene heute nach ihrer Herkunft suchen, kommen sie in vielen Fällen schon bei den Schweizer Behörden nicht weiter. Sie bekommen zwar ihre Dokumente, diese enthalten aber Informationen, die nicht stimmen. «Die Schweizer Behörden verstehen unter Herkunftssuche, uns die gefälschten Dokumente auszuhändigen», sagt Sarah Ineichen.
Ineichen wurde als Baby aus Sri Lanka in die Schweiz adoptiert und präsidiert heute Back to the Roots. Sie fordert vom Bund und von den Kantonen endlich zielführende Unterstützung: «Bei rechtswidrigen Adoptionsverfahren ist die Unterstützung der Schweizer Behörden nicht ausreichend.».
«Noch immer sind Behörden in der Schweiz wenig hilfreich, wenn es darum geht, dass Betroffene ihre Herkunft klären wollen», sagt sie gegenüber dem «Beobachter».
Verein Back to the Roots hilft Betroffenen
Bund und Kantone unterstützen derzeit den Verein Back to the Roots finanziell, um Betroffenen bei der Suche nach ihren Wurzeln in Sri Lanka zu helfen. Doch es gehe nicht nur um Betroffene aus Sri Lanka, sagt Sarah Ineichen.
Alle aus dem Ausland adoptierten Personen würden Hilfe bei ihrer Herkunftssuche benötigen. «Dazu müssen Bund und Kantone nun Verantwortung übernehmen. Es geht letztlich um ein elementares Recht von adoptierten Personen, ihre Herkunft zu erfahren.»