Woche für Woche sitzt er vor den Kameras. Gibt Auskunft über die neusten Entwicklungen, ordnet Infektionszahlen ein, beantwortet Fragen zu Masken, Regeln, Verboten. Meist muss Patrick Mathys (52) Hiobsbotschaften verkünden. Wie am letzten Dienstag, als der Leiter der Abteilung Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) vor Omikron warnte: «Es ist die Ruhe vor einem weiteren Sturm!»
Er mache diese Medienkonferenzen gern, wie Mathys im Gespräch mit Blick sagt: «Ich glaube, es gehört zu meinen Stärken, komplizierte Dinge einfach zu erklären.» Die Bekanntheit, die mit den öffentlichen Auftritten einhergeht, mag er weniger. Wenn sich im Restaurant die Köpfe ihm zuwenden und getuschelt wird: «Das ist doch der vom BAG», ist der gebürtige Solothurner unangenehm berührt.
«Dieser ungefilterte Hass»
Und dann ist da noch das Internet, dessen Anonymität die Schattenseite von vielen offenbare. «Diese Wut, diesen ungefilterten Hass – das habe ich noch nie erlebt.» Die Angriffe und Drohungen setzen ihm zu. «Klar, Corona ist für uns alle eine Last, ich bin es genauso leid wie viele.» Mathys ist extra für das Gespräch aus dem Homeoffice ins BAG gekommen, nun sitzt er da, mit einer Maske, die es unmöglich macht, das Gesicht zu lesen. Und dennoch merkt man in diesem Moment, dass die zwei Jahre Ballast angehäuft haben.
Genau vor zwei Jahren – «es muss der 25. oder 26. Dezember 2019 gewesen sein» – hat er aus Wissenschaftskreisen erstmals von einem neuartigen Virus in China gehört. Und ein mulmiges Gefühl bekommen. Er kann sich an die Sars-Pandemie 2003 erinnern, die über 700 Menschenleben forderte. «Damals hatten wir viel Glück», sagt er. Als er Anfang 2020 zu einer Sitzung der BAG-Geschäftsleitung geladen worden sei, habe ein Kollege gesagt: «Ui, wenn du dabei bist, verheisst es nichts Gutes.» Denn es verhiess, dass da wohl etwas auf die Schweiz zukommen würde. Was, wusste niemand.
Sein erstes Thema war Bioterrorismus
Mathys arbeitet seit 2002 beim BAG. Als er das sagt, entfährt ihm ein «O Gott, das werden dann jetzt 20 Jahre!» Geplant war es so nicht. Nach seinem Studium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH in Zürich macht er am Basler Institut für Sozial- und Präventivmedizin seinen Doktor in Epidemiologie. Eine Unikarriere, bemerkt er, sei nichts für ihn – und er stolpert über ein Stelleninserat beim Bund.
Von da an jagt ein Krisenthema das nächste. Mathys' erstes Dossier wird Bioterrorismus – es ist die Zeit der Anthrax-Anschläge in den USA. Es folgen Sars, Vogelgrippe, Schweinegrippe, Mers. Wie gross ist die Gefahr? Welche präventiven Massnahmen braucht es? Ist die Schweiz parat? Das sind die Fragen, mit denen sich Mathys Tag für Tag beschäftigt.
«Wenn die Krise da ist – bum!»
Corona stellt alles in den Schatten. Mathys wird nachdenklich. Es sei sein Job, das Land auf solche Situationen vorzubereiten, und eigentlich müsste er vertraut sein mit der Möglichkeit einer Krise. «Doch wenn sie dann da ist – bum!» Niemand habe sich vorstellen können, dass die Grenzen geschlossen werden, dass der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausruft, einen Lockdown verhängt. «Alle diese Instrumente sind seit Jahren da – doch nie hätte ich mir vorstellen können, dass wir sie einmal einsetzen müssten.»
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Zwei Jahre Corona heisst für Mathys auch: Zwei Jahre lang 11- oder 12-Stunden-Tage, auch am Wochenende. Da braucht es eine verständnisvolle Familie. «Ich habe keine Kinder, aber ich bin sehr dankbar, dass mein Umfeld da so mitzieht.»
Ferien gab es, aber nur kurz. Schmerzlich für den Wandervogel: Mathys liebt das Reisen, war schon in 98 Ländern mit dem Rucksack unterwegs. Für 2020 war ein längerer Trip nach Namibia geplant. Und eigentlich wollte er ihn dieses Jahr nachholen. «Das ist ja dann nichts geworden.»
Der Akku ist nicht mehr so voll
Und so bleiben nur kleine Fluchten – ein feiner Znacht, ein Glas Wein. Doch häufig setze er sich nach dem Arbeiten einfach 15 Minuten aufs heimische Sofa und höre Musik, «zum Runterkommen». Gern Jazz und R 'n' B, in den letzten Monaten aber häufig auch härtere Sachen, sagt er, um den Tag aus dem Kopf zu kriegen.
Ob das reicht, kann man anzweifeln. Alle paar Wochen wirkt die Zündschnur des sonst recht geduldigen Mannes an den Medienkonferenzen ein bisschen kürzer. Wie voll sind die Batterien noch, Herr Mathys? «Es ist ein bisschen wie bei einem Akku: Häufige Nutzung reduziert die Kapazität. Das spüre ich nach fast zwei Jahren im Krisenmodus sicher.»
«Prinzip Hoffnung ist nicht unsere Aufgabe»
Entspannung ist leider nicht in Sicht. Derzeit bereitet die Omikron-Variante Mathys Kopfzerbrechen. «Wir kennen Omikron jetzt seit vier Wochen – da können wir unmöglich wissen, was es mitbringt.» Er warnt davor, die Meldungen aus Südafrika überzubewerten. Natürlich töne es gut, was von dort berichtet werde – aber die Spannweite der Daten sei einfach riesig. «Prinzip Hoffnung ist nicht unsere Aufgabe», stellt er klar. Und so mag er nichts ausschliessen – auch einen neuen Lockdown nicht. «Wir haben sonst nicht mehr viel in der Hand», sagt er, fast entschuldigend.
Und so wird er auch am kommenden Dienstag wieder vor den Journalisten sitzen und Fragen beantworten. Wie steht es jetzt mit Omikron? Wie viel weniger gefährlich ist es? Und wie viel ansteckender? Dann wird er einmal mehr sagen, dass es keinen Sinn habe, zu spekulieren. Dabei versteht er die Fragen nur zu gut. «Die Bevölkerung erwartet zu Recht Antworten», sagt er. «Aber die können wir nicht alle liefern.»
Immerhin: Fürs nächste Jahr plant er wieder Ferien in Namibia. Wird also alles gut? Mathys lacht: «Es hat keinen Sinn zu spekulieren. Aber auf irgendetwas muss man sich ja freuen.»