Der Mandant von Anwalt Michael Steiner (48) hat dicke Post vom Berner Migrationsamt erhalten. Der Ausländer, der seit über 20 Jahren in der Schweiz lebt, wurde vom Kanton Bern verwarnt, dass er die Schweiz verlassen müsse. Dies, weil er in die Sozialhilfe abgerutscht war. «Dieser Mann hat Kinder in der Schweiz und leidet unter einer psychischen Erkrankung», so sein Anwalt. «Für den Mann war der Brief eine schlimme Nachricht», erzählt Steiner.
Der Jurist hat in diesem Fall eine Beschwerde eingereicht, diese ist seit über einem Jahr hängig.
Solche Briefe sind nichts Aussergewöhnliches: Überschreitet der Bezug von Sozialhilfe von Migrantinnen und Migranten eine bestimmte Höhe – meist 20'000 Franken –, sind die kantonal organisierten Sozialämter verpflichtet, dies den Migrationsbehörden zu melden.
Der Bezug von Sozialhilfe kann als Hinweis auf mangelnde Integration ausgelegt und Betroffenen daher die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden. Oder eine Niederlassungsbewilligung kann aus diesem Grund in eine Aufenthaltsbewilligung zurückgestuft werden.
«Sozialhilfebezug führte zu Verlust der Aufenthaltsbewilligung»
Seit einer Anpassung im Ausländer- und Integrationsgesetz 2019 ist es legal, bei Sozialhilfebezug eine solche Zurückstufung beim Aufenthaltsstatus vorzunehmen – sogar bei Menschen, die länger als 15 Jahre in der Schweiz leben.
«Wir haben Kenntnis von einer Reihe von Fällen, in denen der unverschuldete Bezug von Sozialhilfe zu Rückstufungen oder sogar zum Verlust der Aufenthaltsbewilligung führte», sagte Noémi Weber, Leiterin der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) zum SonntagsBlick.
Doch damit soll nun Schluss sein. Jedenfalls, wenn es nach dem Nationalrat geht. Er hat einen Vorstoss von Samira Marti (28) mit 96 Ja- zu 85-Nein Stimmen gutgeheissen. Dieser sieht vor, dass Ausländer nach über zehn Jahren anstandslosem Aufenthalt nicht mehr weggewiesen werden können, nur weil sie auf Sozialhilfe angewiesen sind. Abgeschoben werden sollen weiterhin Personen, «die ihre eigene Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt haben».
Damit hat der Nationalrat sich zum ersten Mal seit Jahren nicht für eine Verschärfung, sondern für eine Lockerung im Sozialrecht ausgesprochen.
Fehlende Datengrundlage
Im Rat stellten sich die FDP und SVP ohne Erfolg gegen die Änderung. Es gebe es keine verlässlichen Daten, die belegten, dass Ungerechtigkeiten vorliegen, sagte FDP-Vizepräsident Andri Silberschmidt (28).
Damit hat er recht: Wie viele Menschen die Schweiz aufgrund der bisherigen Regeln verlassen mussten, erfasst das Staatssekretariat für Migration (SEM) nicht. Dieses machte nur bekannt, dass es in den Jahren 2019 bis 31. August 2022 insgesamt 626 Rückstufungen vornahm. Nicht immer ist die Sozialhilfe ausschlaggebend, auch mangelnde Sprachkenntnisse können ein Grund dafür sein.
Corona verschärft Situation
Die Grünliberalen und einige Mitte-Politiker trugen das SP-Anliegen mit. Die bisherige Regelung wirke für Ausländerinnen und Ausländer abschreckend, sagte Mitte-Politiker Benjamin Roduit (59). Aus Angst vor einer Wegweisung würden Migrantinnen und Migranten teilweise auch in grosser Not keine Sozialhilfe beziehen, und sich stattdessen verschulden. Zu diesem Schluss kam auch eine Studie der Berner Fachhochschule. Vor allem Familien und Alleinerziehende rutschen dadurch häufig unter die Armutsgrenze, obwohl sie Anspruch auf Hilfe hätten.
Die Corona-Krise verschlechterte die Situation von Armutsbetroffenen zusätzlich, ergab eine andere Umfrage bei Fachpersonen im Migrations- und Sozialbereich. Arme würden sich daher vermehrt an Hilfswerke wenden, um einen Sozialhilfebezug vermeiden zu können.
Bevor die Anpassung im Ausländergesetz in Kraft treten kann, muss auch der Ständerat darüber befinden.