Wenn sich Eltern scheiden lassen
Wie Anwälte Kindern eine Stimme geben

Eine Kindesvertretung unterstützt Kinder und Jugendliche in Verfahren. Was das bringt und wie man dazu kommt.
Publiziert: 29.10.2023 um 18:03 Uhr
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Wenn sich Eltern scheiden lassen, leiden auch die Kinder.
Foto: IMAGO/Zoonar
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Cornelia Döbeli
Beobachter

Nino, 14, wohnt seit der Scheidung der Eltern bei der Mutter. Den Kontakt zu seinem Vater hat er abgebrochen. Der Vater zahlt keine Alimente. Die Mutter arbeitet viel, oft auch nachts, um finanziell über die Runden zu kommen – physisch und psychisch ist sie am Anschlag. Nino ist häufig allein zu Hause und verbringt seine Zeit mit Gamen, bis er eines Tages gar nicht mehr zur Schule geht. Die Schulleitung macht eine Meldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) – und die prüft eine Fremdplatzierung von Nino.

Die Eltern von Dita, 9, sind seit zwei Jahren getrennt. Dita wohnt bei der Mutter, der Vater hat ein ausgedehntes Besuchsrecht. Im Scheidungsverfahren beantragt die Mutter, mit der Tochter nach Tschechien zurückkehren zu dürfen. Sie hat Familie und Freundinnen dort, und hier in der Schweiz findet sie auch keine Stelle. Ditas Vater ist vehement dagegen.

Das sind zwei typische Fälle, in denen eine Kindesvertretung eingesetzt werden könnte – also eine Fachperson, meist eine Anwältin oder ein Anwalt, die die Interessen der Kinder vertritt. Das Gericht oder die Kesb ordnen eine solche Kindesvertretung an, wenn sie es für nötig halten. Insbesondere wenn sich die Eltern nicht einigen können über die elterliche Sorge, das Besuchsrecht oder die Betreuung. Oder wenn das Kind in einer Pflegefamilie oder einer stationären Einrichtung platziert werden soll.

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Seit Jahren bewegt sich die Zahl angeordneter Kindesvertretungen auf tiefem Niveau. Der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz schätzt, dass vor Gerichten und Behörden wie der Kesb mindestens 5000 Kindesvertretungen pro Jahr nötig wären. Wie viele tatsächlich angeordnet werden, weiss man nicht. Denn nur die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz erhebt die Zahl: Am Stichtag 31. Dezember 2022 waren schweizweit 843 Kinder vertreten. Wie oft Kinder vor Gerichten vertreten sind, weiss man nicht. Fest steht aber: Kinder haben in den wenigsten Fällen eine eigene Vertreterin, einen eigenen Vertreter. Auch wenn es etwas kostet – die Vorteile sind gross.

Was ist eine Kindesvertretung?

Ein Kind hat zwei Möglichkeiten, sich in einem Gerichts- oder Kindesschutzverfahren einzubringen: die Kindesanhörung und die Kindesvertretung. Diese beiden Teilnahmerechte sind Menschenrechte. «Die Kindesanhörung ist nur punktuell. Die Kindesvertretung dagegen begleitet und unterstützt Kinder und Jugendliche während des gesamten Verfahrens und erklärt ihnen fortlaufend und altersgerecht, worum es geht – und was ihre Teilnahme- und Einflussmöglichkeiten sind», sagt Christophe Herzig, Kinderanwalt und Lehrbeauftragter. Zu beachten ist dabei: Die Kindesvertretung ersetzt die Anhörung des Kindes durch das Gericht oder die Kesb nicht. Es ist wichtig, dass diese sich durch eine Anhörung ein eigenes Bild vom Kind oder Jugendlichen machen. Denn sie sind es, die letztlich über deren Belange entscheiden.

Was bringt es dem Kind, wenn es eigens vertreten wird?

Dank einer eigenen Vertretung sollen sich die Kinder oder Jugendlichen im Verfahren respektiert und ernst genommen fühlen. «Das kann ihre Resilienz stärken», so Christophe Herzig. Er ist überzeugt: Wenn junge Menschen schwierige Lebenssituationen besser überstehen, meistern sie auch später das Leben leichter – und das kommt der Gesellschaft langfristig zugute. Die zertifizierte Kinderanwältin Alexandra Gavriilidis betont ausserdem, dass Kindesvertreter in Trennungs- und Scheidungsverfahren oft auch vermitteln und zu einer gütlichen Lösung beitragen können.

Was macht eine Kindesvertreterin, ein Kindesvertreter?

«Meine Aufgabe ist es, den Willen des Kindes hauptsächlich in Gesprächen mit ihm und seinem Umfeld sorgfältig abzuklären und diesen Willen dann dem Gericht oder der Kesb zu übermitteln», sagt Kinderanwältin Gavriilidis. Oder in Herzigs Worten: Durch eine Kindesvertretung sollen die Perspektive des Kindes, seine Wünsche und Bedürfnisse ins Verfahren eingebracht werden. Eine Kindesvertretung müsse aber immer auch das Kindeswohl im Hinterkopf behalten. Wenn ein Jugendlicher zum Beispiel lieber bei demjenigen Elternteil wohnen will, der nie zu Hause ist und ihm keine Schranken setzt, muss die Kindesvertretung das dem Kind gegenüber ansprechen.

Je älter ein Kind ist, desto eher muss die Kinderanwältin allerdings ausschliesslich dessen Willen vertreten. Bei jüngeren Kindern steht dagegen das Kindeswohl im Vordergrund, wobei die kindlichen Äusserungen ebenfalls zu übermitteln seien. Auch ein sechsjähriges Kind zum Beispiel könne durchaus eine Meinung haben, die vom Kinderanwalt ins Verfahren einzubringen sei.

Wie geht eine Kinderanwältin, ein Kinderanwalt vor?

Sie nehmen meist über die Hauptbezugsperson mit dem Kind Kontakt auf. Eine Kinderanwältin würde Nino und Dita aus unserem Beispiel wohl anrufen und fragen, wo man sich treffen wolle. Häufig ist das dort, wo die Kinder gerade wohnen. Teils findet das Gespräch aber bewusst im Büro des Kinderanwalts als neutralem Ort statt, da sich dann das Kind gegebenenfalls freier äussern kann.

Im ersten Gespräch erklärt die Kindesvertreterin ihre Rolle, das Verfahren und warum sie eingesetzt wurde – und vor allem, dass sie nicht zum Gericht oder zur Kesb gehört, sondern allein auf der Seite des Kindes steht. «Und dann stelle ich meist Fragen, um zu erfahren, was das Kind schon weiss, wie es seine Situation sieht und was es sich wünscht», erzählt Kinderanwältin Gavriilidis.

Wer wird bei kleineren Kindern noch angehört?

Wichtig sei, ein möglichst offenes Gespräch zu führen. Das Kind solle spüren, dass man es ernst nimmt. Kinderanwälte sehen die Kinder in der Regel zwei- bis dreimal. Bei kleineren Kindern reden sie auf jeden Fall auch mit der Hauptbezugsperson und, wenn nötig, mit anderen wichtigen Personen wie etwa den Grosseltern oder der Beiständin.

Bevor Gavriilidis eine Eingabe für das Kind ans Gericht oder an die Kesb schreibt, bespricht sie diese mit ihm – und zwar so, dass es sie versteht. Und wenn der Entscheid schliesslich vorliegt, erklärt ihn die Kinderanwältin dem Kind und schaut, wie es darauf reagiert. «Es gehört zu unseren Aufgaben, dem Kind verständlich zu erklären, was der Entscheid für seine jetzige Lebenssituation bedeutet, was die Vor- und Nachteile eines Weiterzugs sind und welche Alternativen es gibt.»

Wer kann eine Kindesvertretung beantragen?

Wenn das Gericht respektive die Kesb keine Kindesvertretung von sich aus anordnet, können die Eltern, ein Beistand des Kindes oder das Kind selber einen Antrag stellen – zu Beginn oder auch erst im Lauf des Verfahrens. Wenn ein urteilsfähiges Kind in einem Gerichtsverfahren einen Antrag darauf stellt, muss das Gericht eine Kindesvertretung anordnen. Urteilsfähig ist ein Kind etwa ab zehn Jahren. Sonst entscheidet die Behörde respektive das Gericht nach Ermessen, ob die Anordnung nötig ist.

Wer trägt die Kosten für einen Kinderanwalt, eine Kinderanwältin?

Die Aufwände gehören zu den Verfahrenskosten. Sie richten sich nach kantonalem Recht. Die Eltern müssen sie in der Regel hälftig tragen. Wenn ihnen die unentgeltliche Prozessführung bewilligt wird, übernimmt der Staat die Kosten. Falls sie allerdings später dazu in der Lage sind, müssen sie die Kosten zurückerstatten. In gewissen Kantonen, etwa in Bern, sind Kesb-Verfahren kostenlos.

Warum sind Gerichte und Behörden eher zurückhaltend mit der Einsetzung von Kindesvertretungen?

Darüber können nur Vermutungen angestellt werden: Hauptsächlich fürchtet man wohl die Kosten – und dass eine weitere Partei das Verfahren verlängern und komplizierter machen könnte.

Was die Kindesschutzverfahren betrifft, ist der Kanton Zürich als einziger heute gut unterwegs. Dort gibt es seit 2016 eine Weisung der Aufsichtsbehörde, dass bei der Unterbringung eines Kindes die Kesb schriftlich begründen muss, warum sie keine Kindesvertretung einsetzt. Anlass war der Fall Flaach, wo 2015 eine Mutter ihre beiden Kinder getötet hat, die fremdplatziert waren. «Die Behörden haben gemerkt, dass die Nichteinsetzung bei Fremdplatzierungen kaum begründet werden kann», führt Christophe Herzig dazu aus. Um die Zahl der Kindesvertretungen zu erhöhen, wäre auch in anderen Kantonen eine solche Weisung wünschenswert. Auch könnte die Begründungspflicht auf weitere Fälle ausgedehnt werden.

Jonas Schweighauser, Anwalt und Lehrbeauftragter an der Universität Basel, der ebenfalls Kindesvertretungen macht, plädiert gar dafür, dass in bestimmten Fällen zwingend eine Kindesvertretung angeordnet werden müsste – zum Beispiel wenn den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihr Kind entzogen wird oder sie seit über einem Jahr um die Obhut streiten. Das bräuchte allerdings eine Gesetzesänderung.

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