Erst sitzt Simona Zaugg (52) ihre Symptome aus. Vielleicht verschwinden sie ja von selbst. Die tauben Hände, die brennenden Füsse. Das Kribbeln, das von den Zehen in die Knie zieht. Das weiterwandert, als würden Ameisen ihren Körper befallen. Die Zürcherin ist keine, die schnell zum Arzt rennt. Schon gar nicht in jenem Jahr.
Zaugg ist eine der Ersten, die im März 2020 an Corona erkranken. Ihren Namen haben wir geändert. «Wer kein Notfall war, sollte zu Hause bleiben, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten», erinnert sie sich. Also wartet sie. Mit Schwindel, Fatigue, Übelkeit, Migräne, Herzrasen – und Ameisen. Die Zeit bringt keine Besserung, also sucht sie nach sechs Monaten einen Neurologen auf.
Gesund, nur weil der Arzt das sagt?
«Als ich meine Beschwerden nannte, schaute er mich schon komisch an», sagt sie. Die Untersuchung zeigte keine Auffälligkeit. «Da hiess es, ich sei gesund und solle mir keine Sorgen machen.» Aber weder Sorgen noch Symptome lassen sich auf Knopfdruck ausschalten. Soll sie sich freuen, obwohl es ihr nicht bessergeht? Ist sie gesund, nur weil der Arzt das sagt?
Von Long Covid spricht zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Es ist aber bekannt, dass ein Corona-Verlauf langwierig sein kann. Nach weiteren Monaten sind Zauggs Hände mal rot gefleckt, mal blauviolett verfärbt.
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Verzweifelt vereinbart sie einen Termin in einer neuen Praxis. «Die Ärztin sagte nach einem kurzen Blick, das sei normal. Als ich mich wehrte, redete sie sich in Rage: Sie wisse schon, was sie tue – ich solle ihr nicht dreinreden. So spricht man doch nicht mit Patientinnen!» Zaugg muss es wissen, sie ist Psychologin.
Medical Gaslighting: Wenn man nicht ernst genommen wird
Was sie erlebt, ist kein Einzelfall. Immer wieder müssen sich Patientinnen und Patienten erklären und rechtfertigen, Symptome werden ignoriert und bagatellisiert. Das Phänomen ist altbekannt, trägt aber einen neuen Namen: Medical Gaslighting.
«Gaslighting» (deutsch: Gasbeleuchtung) ist ein psychologischer Fachbegriff und meint das Hinterfragen einer Person – so lange, bis diese den eigenen Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen nicht mehr traut. Die ungewöhnliche Bezeichnung geht auf «Gas Light» zurück, ein Theaterstück aus dem Jahr 1938: Ein Mann dreht das Gaslicht im Haus heimlich herunter und behauptet, seine Frau bilde sich das Flackern nur ein. So manipuliert er sie und schafft eine Abhängigkeit.
In den letzten Jahren wurde Gaslighting ein Alltagsbegriff, 2022 sogar zum amerikanischen Wort des Jahres gekürt. Die Suchanfragen seien im Vergleich zum Vorjahr um 1740 Prozent gestiegen, verkündete das Wörterbuch «Merriam-Webster». Verantwortlich sei kein einzelnes Ereignis, sondern der breite Gebrauch: Gaslighting kann eine Beziehung zwischen Individuen beschreiben, aber auch strukturelle Manipulation – von Medien, Machthabern, Politikerinnen.
Vorurteile und Zeitdruck sind schuld
Nun stehen auch Ärztinnen und Ärzte am Pranger. Zu Recht? Jein, denn die wenigsten verhalten sich bewusst übergriffig. Verinnerlichte Vorurteile sorgen aber dafür, dass sie Patientinnen und Patienten unterschiedlich behandeln. Studien zeigen, dass Frauen, People of Color, LGBTQI+-Personen, Übergewichtige und Senioren besonders häufig von Medical Gaslighting betroffen sind.
«Unser medizinisches System ist auf Standardisierung ausgerichtet», erklärt Susanne Gedamke von der Patientenorganisation SPO. «Das ist zwar in vielerlei Hinsicht hilfreich, eine Fachperson muss aber merken, wenn etwas vom Standard abweicht. Sie darf nicht versuchen, Patienten in ein Schema zu drücken.»
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Ein weiteres Problem: Das durchökonomisierte Gesundheitssystem verlangt möglichst effiziente Sprechstunden. Fachpersonen stehen unter Zeitdruck, für Ausführungen bleibt wenig Zeit. Patientinnen und Patienten kommen aber oft mit Fragen oder Ideen zum Gespräch, weil sie vorab mögliche Diagnosen ergoogelt haben.
Google brachte sie auf Long Covid
Für 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist Google die erste Anlaufstelle für gesundheitliche Fragen, 80 Prozent informieren sich online über Gesundheitsthemen. Das zeigt eine Befragung im Auftrag der Sanitas.
Das Internet wird deswegen schnell bezichtigt, Gesunde zu Kranken zu machen. Wer «wunde Zunge» sucht, landet bei Tuberkulose oder Syphilis im Frühstadium – obwohl vielleicht eine Zitrusfrucht schuld ist. Wenn diese Person nun eine Biopsie verlangt, reagiert die Ärztin mit grosser Wahrscheinlichkeit zurückhaltend. «Es kommt vor, dass Ärztin und Patient unterschiedliche Vorstellungen von Untersuchung und Diagnose haben. Das muss thematisiert werden, ist aber nicht gleich Medical Gaslighting», sagt Yvonne Gilli (66), Präsidentin des Ärzteverbandes FMH.
Wer das Internet grundsätzlich verteufelt, macht es sich aber zu einfach. Dr. Google kann zwar zu Problemen führen, erstaunlich oft aber auch die Lösung sein. In Foren und auf Social Media vernetzen sich Patienten und teilen negative Erfahrungen. Es entsteht eine Community, in der man sich gegenseitig unterstützt, Rechte einfordert und Fehlverhalten anprangert. Nur so schaffte es Medical Gaslighting in die gesellschaftliche Diskussion.
Simona Zaugg hört bei der Patientenorganisation Long Covid Schweiz zum ersten Mal von Small-Fiber-Neuropathie (SFN), auch Kleinfaserneuropathie genannt. Die Erkrankung wird durch eine Schädigung der kleinsten Nervenfasern verursacht. Sie sind zentral für das Empfinden von Wärme, Kälte und Schmerz. Auch das autonome Nervensystem, das die Funktion der inneren Organe steuert, ist oft befallen. Bald diskutiert Zaugg auf Facebook und Whatsapp mit Betroffenen. Die verweisen sie ans Luzerner Kantonsspital, wo einer der wenigen Schweizer Spezialisten arbeitet.
Nach drei Jahren endlich die Diagnose
Im März 2023 bestätigt sich der Verdacht: Sie leidet an Kleinfaserneuropathie. In der Schweiz sind 146 von 100'000 Personen betroffen. Die Diagnose zu stellen, ist aufwendig: Die Symptome sind wenig bekannt, die Ursachen können vielfältig sein. Infrage kommen zum Beispiel Autoimmunerkrankungen, Stoffwechselstörungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten.
- Notieren Sie vor dem Arzttermin Fragen und Bedenken.
- Nehmen Sie eine Begleitperson zur Unterstützung mit.
- Bringen Sie Daten mit, etwa von Smartwatches oder früheren Untersuchungen.
- Fühlen Sie sich nicht ernst genommen? Sprechen Sie die behandelnde Fachperson offen darauf an.
- Falls das nichts nützt: Holen Sie eine Zweitmeinung ein oder wechseln Sie die Ärztin.
- Melden Sie Fälle. Die Patientenorganisation SPO hat dafür eine Plattform eingerichtet: www.patbox.ch.
- Holen Sie Hilfe – von Bekannten, Psychologen, Anwältinnen, Patientenorganisationen.
- Notieren Sie vor dem Arzttermin Fragen und Bedenken.
- Nehmen Sie eine Begleitperson zur Unterstützung mit.
- Bringen Sie Daten mit, etwa von Smartwatches oder früheren Untersuchungen.
- Fühlen Sie sich nicht ernst genommen? Sprechen Sie die behandelnde Fachperson offen darauf an.
- Falls das nichts nützt: Holen Sie eine Zweitmeinung ein oder wechseln Sie die Ärztin.
- Melden Sie Fälle. Die Patientenorganisation SPO hat dafür eine Plattform eingerichtet: www.patbox.ch.
- Holen Sie Hilfe – von Bekannten, Psychologen, Anwältinnen, Patientenorganisationen.
Bei Zaugg richtet sich das Abwehrsystem gegen den eigenen Körper. «Es hat vermutlich mit meiner Genetik zu tun: Menschen mit spezifischen Mutationen könnten anfälliger sein», sagt sie. Studien deuten auf einen Zusammenhang zwischen Kleinfaserneuropathie und Long Covid. Kein Wunder: Long Covid greift das Nervensystem an. «Ohne andere Betroffene und Social Media wüsste ich das vielleicht noch heute nicht.»
Gespräch auf Augenhöhe sind zwingend
Viele Erkrankte finden auf demselben Weg zu Spezialistinnen. Ein Name, der oft fällt: Maja Strasser. Die Solothurner Neurologin beschäftigt sich seit zwei Jahren intensiv mit Long Covid – einer Erkrankung, bei der Medical Gaslighting besonders häufig vorkommt. Strasser ist für ihr empathisches Vorgehen bekannt. «Was ich mache, ist nichts Spezielles: Ich bilde mich weiter, nehme mir Zeit und untersuche gründlich», winkt sie ab.
Ein Gespräch auf Augenhöhe sei zwingend. «Einige Patienten kommen mit Ideen, die wir diskutieren. Bei anderen erfrage ich vieles: Wie sieht ihr Alltag aus? Wann stehen sie auf? Wie oft haben sie die Kraft, zu duschen?» Der Austausch befreie Erkrankte aus der passiven Rolle und gebe ihnen Selbstvertrauen zurück. Strasser gibt Weiterbildungen und veröffentlicht ihr Therapieschema online, damit andere Ärztinnen und Ärzte davon profitieren können.
Patienten als Subjekte statt als Objekte
«Fachpersonen müssen möglichst früh dafür sensibilisiert werden, dass Patienten Subjekte und keine Objekte sind. Das ist eine Frage der Haltung und sollte eingeübt werden», heisst es auch bei der Patientenorganisation. Der Ärzteverband FMH stimmt dieser Aussage zu. Die professionelle Kommunikation müsse zwingend im Fokus von Aus- und Weiterbildung stehen.
Simona Zaugg sitzt ihre Symptome nicht mehr aus. Die Zürcherin ist informiert, hartnäckig, fordernd. «Kürzlich habe ich meinen Arzt auf eine Therapie angesprochen, die in den USA gute Ergebnisse erzielt. Er kannte sie, war aber zurückhaltend, weil die Krankenkasse wahrscheinlich keine Kosten übernimmt.» Davon lässt sie sich nicht abhalten, dazu fehlt ihr die Zeit. Zaugg steht kurz vor einer Magenlähmung.
Sie will kämpfen – und zählt auf Unterstützung ihrer Rechtsschutzversicherung. «Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Mit der richtigen Behandlung kann Small-Fiber-Neuropathie gestoppt werden, und die Nerven erholen sich. Das ist mein Ziel.» Ein Leben ohne Ameisen.