Herr Montgomery, Sie stehen gerade mitten im Shitstorm.
Frank Montgomery: Sie können sich nicht vorstellen, was bei mir los ist. Die gesamte Jurisprudenz entlädt ihren heiligen Zorn in meiner Mailbox.
Grund ist folgende Aussage von Ihnen: «Ich stosse mich daran, dass kleine Richterlein sich hinstellen und wie gerade in Niedersachsen 2G im Einzelhandel kippen, weil sie es nicht für verhältnismässig halten.»
Es kann doch nicht sein, dass die Richter in einem Bundesland das eine und in einem anderen etwas ganz anderes entscheiden. Die Menschen verstehen das nicht. Die Richter müssen Präzision walten lassen.
Sie bereuen die Aussage also nicht?
Natürlich nicht! Ich bin hocherstaunt über die fehlende Souveränität der Richter. Was müssen wir Mediziner uns alles anhören in dieser Pandemie. Anfeindungen ohne Ende. Und die Juristen sind jetzt «totalst» beleidigt, weil ich sie «kleine Richterlein» genannt habe. Da wünsche ich mir mehr Gelassenheit.
Die deutsche Bundesärztekammer sieht das anders. Sie hat sich von Ihnen distanziert. Sie seien «nicht legitimiert, das Rechtsstaatsprinzip infrage zu stellen».
Diese Aussage der Ärztekammer hat mich sehr gewundert. Ich war ja lange deren Präsident. Zu meiner Zeit hätten wir erst mal mit der Person geredet, bevor wir sie in einer Stellungnahme angeprangert hätten.
Frank Ulrich Montgomery (69) ist ein mehrfach ausgezeichneter Radiologe und seit 2019 Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes. Zuvor war er Präsident der deutschen Bundesärztekammer. Montgomery arbeitete bis Ende 2018 als Oberarzt der Radiologischen Klinik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Er ist mit einer Allgemeinärztin verheiratet und hat zwei Kinder.
Frank Ulrich Montgomery (69) ist ein mehrfach ausgezeichneter Radiologe und seit 2019 Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes. Zuvor war er Präsident der deutschen Bundesärztekammer. Montgomery arbeitete bis Ende 2018 als Oberarzt der Radiologischen Klinik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Er ist mit einer Allgemeinärztin verheiratet und hat zwei Kinder.
Aber mit Ihrer Aussage desavouieren Sie doch die Justiz.
Darum ging es mir nie. Ich bin ein totaler Verfechter der Gewaltenteilung. Der Rechtsstaat ist die Grundlage unserer Demokratie. Aber auch Richter, Gerichte und Urteile muss man in einem Rechtsstaat kritisieren dürfen. Zugegeben, die Aussage war eine bewusste Zuspitzung. Im Kern aber ist sie richtig.
Sie spitzen gerne zu. Anfang November sagten Sie in einer Talkshow, wir litten unter einer «Tyrannei der Ungeimpften».
Manchmal müssen Sie etwas zuspitzen, um eine Diskussion in Gang zu bringen. Damals hat sich noch kein Mensch getraut zu sagen, dass wir Ungeimpfte und Geimpfte unterschiedlich behandeln müssen. Heute ist das Standard. Ich bin sogar ein bisschen stolz, dass ich das angestossen habe.
Die «NZZ» schrieb diese Woche, Sie hätten sich vom Funktionär zum Populisten gewandelt.
Ich sehe mich nicht als populistisch. Aber das müssen andere beurteilen. Wenn Populist, dann immerhin nicht auf der Seite, wo man die meisten Populisten ansiedelt – nämlich bei den Impfgegnern, Querdenkern und Corona-Leugnern. Aber wollten wir nicht über die epidemiologische Lage reden?
Da hat Omikron das Geschehen übernommen, die Zahlen steigen. Was kommt da auf uns zu?
Wir laufen gerade in grössere Probleme hinein, so viel ist klar. Omikron ist dermassen ansteckend, dass die Fälle explodieren werden. Auch wenn Omikron seltener als Delta zu schweren Erkrankungen führt, werden die Hospitalisierungen stark zunehmen.
Und die Spitäler sind bereits jetzt am Anschlag.
Es droht in der Tat eine Überlastung. Das können wir uns nicht leisten.
Was schlagen Sie vor?
Das Einzige, was wirklich hilft, sind Kontaktbeschränkungen. Die wirken sehr schnell und sicher.
Braucht es einen Lockdown?
Kontakte kann jeder von uns selbst einschränken. Dafür braucht es nicht unbedingt gesetzlich angeordnete Massnahmen. Ich geh zwar davon aus, dass wir nicht um weitere Massnahmen herumkommen. Gleichzeitig bin ich zuversichtlich, dass wir nicht mehr alles einfach platt auf null herunterfahren müssen. Wir sind weiter als vor einem Jahr, vor allem dank der Impfung.
Die Impfquote in den deutschsprachigen Ländern ist noch immer ungenügend. Warum?
Ich kann mir das nur mit einer traditionellen Aversion gegen Impfungen erklären. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es eine verbreitete Hinwendung zu esoterischen Formen von Medizin. Ich weiss wirklich nicht, wie wir diese Leute noch mitnehmen können. Auch die gewaltigen Aufklärungskampagnen haben nichts genützt.
Das letzte Mittel ist die Impfpflicht.
Das ist das Ergebnis davon. Und es ist total richtig. Diejenigen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, werden aus gewissen Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen. Punkt.
Ist das demokratiepolitisch nicht hochproblematisch?
Es hat nun wirklich genug Vorwarnungen gegeben. Wir sprechen hier ja nicht von einem Zwang. Die Polizei wird niemanden zur Impfung zwingen. Kein Arzt wird Patienten gegen deren Willen impfen.
Während wir bereits boostern, fehlt in Entwicklungsländern der Impfstoff. Wie schaffen wir es, eine faire Verteilung der Vakzine zu ermöglichen?
Die Impfstoffe werden von den meisten Konzernen ganz offensichtlich viel zu teuer verkauft. Der Staat sollte die exorbitanten Gewinne der Hersteller abschöpfen. Alle westlichen Staaten sollten das tun. Und mit dem Geld für eine faire Verteilung sorgen.
Sie plädieren für eine Teilenteignung?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin weder Sozialist noch Kommunist. Ich bin dafür, dass diese Unternehmen Gewinne machen. Aber was spricht dagegen, dass Staaten einen Teil der Gewinne – wir reden hier von vielen Milliarden Franken – abschöpfen? Beispielsweise über Steuern. Wenn Sie das Enteignung nennen wollen, meinetwegen.
Eine Alternative wäre, die Patente für die Impfstoffe freizugeben.
Das funktioniert nicht. Vor allem bei den mRNA-Impfstoffen von Pfizer und Moderna ist die Herstellung und die Qualitätssicherung dermassen komplex, dass es gefährlich wäre, mal schnell eine Produktionsstätte in einem Drittweltland aufzubauen. Ohne das Know-how der Konzerne geht das nicht.
Besteht bei all diesen Modellen nicht die Gefahr, dass die Hersteller ihre Motivation verlieren, überhaupt Impfstoffe zu entwickeln?
Mir wäre es ja auch lieber, wenn die Pharmaindustrie von sich aus eine vernünftige Preispolitik betreiben würde. Manche Firmen tun das übrigens. Astrazeneca hat von Beginn weg auf übermässige Gewinne verzichtet und auf moderate Erträge gesetzt. In armen Ländern bietet das Unternehmen die Impfung gar zum Selbstkostenpreis an. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Konzerne wie Biontech Anfang 2020 viele Hundert Millionen von Staaten geschenkt erhielten, um an Impfstoffen zu forschen.
Zurück zu Omikron. Könnte es sein, dass die Variante das Ende der Pandemie bedeutet? Ein Ende mit Schrecken quasi?
Durch Omikron wird die Grundimmunisierung der Bevölkerung zweifelsohne voranschreiten. Jeder von uns wird mit der Variante in Kontakt kommen. Das könnte zu einer Abflachung der Pandemie führen.
Zum Schluss das Aber.
Das Virus hat uns noch jedes Mal erstaunt mit neuen Varianten. Zentral ist jetzt, dass wir versuchen, möglichst viele Infektionen zu verhindern. Nur in der Infektion kann eine Mutation entstehen. Hoffnung ist aber angebracht.