Die Daten aus dem Ausland lassen nichts Gutes erhoffen: Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) warnt vor einem Wiederanstieg der Fallzahlen durch die Omikron-Varianten BA.4 und BA.5.
Vielerorts ist das der Fall: In Israel hat sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen in den letzten vier Wochen verdoppelt. Salman Zarka, Corona-Beauftragter der Regierung, erklärte diese Woche, man stehe am Anfang einer neuen Welle und werde wohl bald eine fünfte Impfung verabreichen. Corona-Experten empfehlen sogar die Wiedereinführung der Maskenpflicht in Innenräumen.
In Portugal sind die Fallzahlen ebenfalls massiv gestiegen, und nicht nur das: Die Zahl der wöchentlichen Covid-Todesfälle hat fast den Höchststand der ersten Welle erreicht.
Wie gut ist die Schweiz vorbereitet?
Auch in der Schweiz steigen die Fallzahlen an: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) meldete am Dienstag 10'289 neue Ansteckungen in den letzten sieben Tagen und 107 Spitaleinweisungen. Damit sind die Fallzahlen innert Wochenfrist um 48,2 Prozent gestiegen. Die Spitaleinweisungen nahmen im Vergleich zur Vorwoche um 8,1 Prozent zu.
Auch wenn der Trend nicht ganz so eindeutig ist – schon Mitte Mai gab es in einer Woche über 10'000 Neuinfektionen und gar 150 Hospitalisierungen – stellt sich die Frage: Wie stark wird die Corona-Sommerwelle ausfallen? Und wie wäre die Schweiz vorbereitet, wenn sich ein Szenario wie in Portugal entwickeln sollte?
Nicht wirklich, lautet die Antwort. Der Bund will erst eingreifen, wenn die Welle schlimmer ausfällt als die bisherigen und die Spitäler an ihre Grenze kommen. So lange sollen die Kantone selbst schauen – was diese allerdings ablehnen.
Überraschen kann die Welle nicht
Immerhin: Bund und Kantone überwachen den epidemiologischen Verlauf. Sie erheben Fallzahlen, Anzahl Tests, Spitaleintritte und werten Abwasseranalysen aus. Dass sich eine grosse Welle unbemerkt anbahnt und plötzlich über uns hereinbricht, ist daher unwahrscheinlich. Auf dem Covid-Dashboard des BAG kann auch jeder Einzelne nachschauen, wie sich das Virus verhält. Dort zeigt sich etwa, dass Basel-Stadt, der Kanton Zürich, Genf – und das Fürstentum Liechtenstein aktuell am meisten Neuinfektionen vermelden.
So können die Kantone auf Ausbrüche reagieren:
- Verbot von Veranstaltungen
- Schulschliessungen
- Maskenpflicht im ÖV, in Läden, an Veranstaltungen
- Anordnung von Isolation und Quarantäne für Infizierte und deren Kontaktpersonen
Zudem sind sie verpflichtet, genügend Test-, Impf- und Spitalkapazitäten aufrechtzuerhalten.
Der Bund selbst will sich auf
- das Monitoring,
- die nötige Koordination und
- die Beschaffung von Impfstoffen
beschränken. Zudem stellt er sicher, dass technische Hilfsmittel wie das Covid-Zertifikat und die SwissCovid-App funktionieren für den Fall, dass diese wieder eingesetzt werden müssen.
«Niemand will der erste sein»
Ein Blick auf diese Liste reicht, um zu sehen, dass ein schnelles Eingreifen im Fall einer erneuten Welle unwahrscheinlich ist. Die Kantone werden sich kaum so schnell koordinieren und einigen können. Und dass ein einzelner Kanton allein Massnahmen wie eine Maskenpflicht verhängt oder gar Veranstaltungen verbietet, ist praktisch ausgeschlossen.
Das sieht auch Gesundheitspolitiker Lorenz Hess (60) so. «Die Verantwortung an die Kantone zu übergeben, wird nicht funktionieren», sagt der Mitte-Nationalrat. «Niemand wird der erste sein wollen, der Massnahmen ergreift.» Und selbst wenn, sei ein Flickenteppich zu befürchten, den es schon mal gegeben habe und den sicher niemand wieder wolle.
Bund kann wieder Massnahmen anordnen
Das heisst: Zum Schluss wird es wieder der Bund sein, der durchgreift. Und das kann er auch, wie der Bundesrat in seinem Grundlagenpapier vom 18. Mai schreibt: Er kann den Kantonen bestimmte Massnahmen wie eine Maskenpflicht empfehlen – und er kann sie sogar anordnen, wenn eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit droht. Und das sogar, ohne wieder in die besondere Lage nach Epidemiengesetz zu wechseln.
Sich darauf vorzubereiten, fordert Mitte-Politiker Hess: «Derzeit braucht es keine Massnahmen», stellt er klar. «Aber ich erwarte schon vom Bundesrat, dass er aufhört, sich aus der Verantwortung zu stehlen, und seine Kompetenzen wahrnimmt.» Angesichts der steigenden Zahlen sollte sich die Landesregierung jetzt damit befassen, welche Massnahmen ab welchem Zeitpunkt wieder denkbar und möglich sind.
Sensibilisieren – oder nur überwachen?
Die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber (62) meint gar, es brauche jetzt schon ein Gegensteuern. Nötig seien Sensibilisierungsmassnahmen, «damit den Menschen bewusst wird, dass Corona immer noch da ist – ohne Panik zu verbreiten. Mit bewusster Hygiene könnte ein erneuter Peak aber abgebremst werden.»
SP-Gesundheitspolitikerin Flavia Wasserfallen (43) hingegen findet, im Moment reiche es, die Krankheitsverläufe und möglichen Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung zu beobachten. «Sorgen macht mir mit Blick auf den Spätherbst eher die Personallage.» Die Kantone müssten sich zur Bereitstellung einer genügenden Spitalkapazität koordinieren und Ressourcen bereitstellen für den Ernstfall – «auch dann, wenn das für sie mit Kosten verbunden ist».