Der Mittwoch war kein Freudentag für die Freisinnigen. Mit dem überraschenden Abgang von Bundeskanzler Walter Thurnherr (60, Mitte) steigt die Gefahr, dass FDP-Bundesrat Ignazio Cassis (62) abgewählt wird.
Falls die Mitte die FDP bei den Parlamentswahlen im Oktober überholt, könnte die Bundesversammlung gewillt sein, Thierry Burkart (47) beim Wort zu nehmen. Der FDP-Präsident propagiert stets, die grössten drei Parteien sollen je zwei Bundesratssitze haben. Die viertgrösste Partei nur einen Sitz. Quasi als Trostpreis durfte die CVP (inzwischen Mitte) als viertstärkste Partei den Kanzler stellen.
Sind die Kräfteverhältnisse nach den Wahlen aber umgekehrt und die FDP ist die Nummer vier, muss sie sich vielleicht plötzlich neben Bundesrätin Karin Keller-Sutter (59) mit einem Kanzler statt einem zweiten Bundesrat begnügen.
Fertig Frieden!
«Je nach Wahlausgang kann mit dem Rücktritt von Thurnherr tatsächlich eine ganz neue Dynamik entstehen», sagt ein einflussreicher SP-Politiker. Allein mit dem Rücktritt seines Bundesrats Alain Berset (51) war diese nicht gegeben, da eine Partei nach der anderen versicherte, bei den Bundesratswahlen vom 13. Dezember keine Bisherigen abzuwählen. Und weil auch niemand den Anspruch der Sozialdemokraten auf zwei Bundesräte infrage stellte, schien das Rennen gelaufen: SP-Mitglied ersetzt SP-Mitglied – alles beim Alten.
Jetzt aber wirkt das Stillhalteabkommen zwischen den Parteien obsolet. Die SVP gräbt schon das Kriegsbeil aus: Fraktionspräsident Thomas Aeschi (44) erhebt für seine Partei Anspruch aufs Kanzleramt. Beim Kanzler handle es sich nicht um einen dritten Bundesratssitz, «sondern um eine Art Sekretär, der die Geschäfte führt», erklärt er.
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Keiner ausser uns
Aus Aeschis Sicht haben SP und Grünliberale schon jemanden im Regierungsumfeld: Der erste Vizekanzler, André Simonazzi (55), ist Mitglied der SP, der zweite Vizekanzler, Viktor Rossi (55), Mitglied der GLP.
«Die Mitte-Partei wiederum hat mit Thurnherr und Corina Casanova die letzten beiden Bundeskanzler gestellt, die sind nun nicht mehr am Zug», so der Fraktionschef. «Und die FDP hat seit 1848 neun der 14 Bundeskanzler gestellt.»
Gedankenspielen, die in den Bundesrat drängenden Grünen und Grünliberalen mit dem Kanzleramt ruhig zu stellen, kann Aeschi generell nichts abgewinnen: «Der Bundeskanzler sollte Mitglied einer Bundesratspartei sein – und sicher nicht einer linksextremen Opposition.»
Ökoparteien wittern Morgenluft
Doch es gibt Überlegungen, Grüne oder GLP mit dem Kanzleramt ruhigzustellen. Da Vizekanzler Rossi Mitglied der Grünliberalen ist, wäre es nicht ganz abwegig, dass er zum höchsten Bundesbeamten aufsteigt.
GLP-Präsident Jürg Grossen (53) sieht Rossi denn auch in einer sehr guten Ausgangslage, sollte er Bundeskanzler werden wollen. «Das Amt ist für uns eine Option, die wir sicher genau prüfen werden», sagt er. Aber: «Priorität hat für uns nach wie vor ein Sitz im Bundesrat.» Wenn die GLP ihre Ziele bei den Parlamentswahlen erreicht, will sie auf jeden Fall zu den Bundesratswahlen antreten.
Auch die Grünen sind nicht gewillt, sich von den Bürgerlichen mit dem Trostpreis abspeisen zu lassen. «Das Bundeskanzleramt ist für uns nicht prioritär», sagt Fraktionschefin Aline Trede (39). Vorrang habe ein Sitz in der Landesregierung. Aber, gibt sie zu, mit dem Abgang Thurnherrs würden die Gespräche rund um die Wahlen im Dezember nochmals spannender.
Eher SVP- als Öko-Kanzler
Nur: Derzeit sieht es nicht danach aus, dass die GLP beim Wähleranteil im Herbst über zehn Prozent kommt und einen Ständesratssitz erringt. Beides machte die Ökopartei selbst zur Bedingung dafür, in die Landesregierung einzuziehen. Und falls die Grünen wie erwartet die grosse Wahlverliererin sein sollten, dürften auch sie kaum Ansprüche erheben können.
«Ich halte es für realistischer, dass die SVP als grösste Partei neben ihren beiden Bundesräten auch noch den Kanzler stellt, als dass eine der Ökoparteien zum Handkuss kommt», heisst es deshalb von einem Spitzenpolitiker aus dem politischen Zentrum.
Schweigen ist Gold
Bewusst offen lässt FDP-Chef Burkart aktuell die Kanzlerfrage. Schliesslich kann seine Partei nur verlieren, wenn sie sich heute schon in irgendeiner Weise festlegt.
Und auch die Mitte selbst erhebt nicht einfach Anspruch auf den Kanzler: «Für die Mitte erfordert das Amt der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers eine integrative und führungsstarke Persönlichkeit mit profunden Kenntnissen der Bundesverwaltung», lässt sich Fraktionschef Philipp Matthias Bregy (45) diplomatisch zitieren.