Waffen für den Kreml
Wie die Schweiz vor Russland einknickte

Kurz bevor Russland die Krim annektierte, lieferte die Schweiz über hundert Maschinenpistolen an den Kreml. Vertrauliche Dokumente zeigen, wie es dazu kam.
Publiziert: 14.03.2025 um 09:43 Uhr
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Aktualisiert: 14.03.2025 um 13:25 Uhr
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Herzlicher Händedruck in Genf: die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und der russische Präsident Wladimir Putin im Juni 2011.
Foto: freshfocus

Darum gehts

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Lukas Lippert
Beobachter

«Mehr Spielraum» möchte der Bundesrat mit der aktuellen Änderung des Kriegsmaterialgesetzes. So will er die Bewilligung von Kriegsmaterialausfuhren eigenständig an «sich ändernde geopolitische Gegebenheiten» anpassen können, wie es in der Botschaft heisst. Im Parlament ist das umstritten.

Vertrauliche Dokumente aus der Bundesverwaltung, die der Beobachter gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat, zeigen nun: «Spielraum» hatte der Bundesrat schon früher – dank eines Tricks im Kleingedruckten. Will er mit der aktuellen Gesetzesänderung also offiziell erlauben, was er ohnehin schon seit längerem macht?

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Aber der Reihe nach.

«Warmherzige Gespräche» in Moskau

Die Welt war eine andere, als Ende 2008 ein Ausfuhrgesuch für Kriegsmaterial der Thuner Waffenhändler B&T auf dem Tisch der damaligen Politischen Direktion des Aussendepartements (EDA) landete. Es ging um drei Scharfschützengewehre, 20 Maschinenpistolen des Typs MP9 und Zubehör wie Schalldämpfer.

Pikant: Bestellt wurden die Waffen vom Sicherheitsdienst der Russischen Föderation (FSB), zu dem auch die Bodyguards der Kreml-Elite gehören.

Die Beziehungen zu Russland waren damals gut, zumindest vordergründig. Bundesrätin Micheline Calmy-Rey hatte ein Jahr zuvor bei einem Besuch in Moskau noch die Hand Wladimir Putins geschüttelt und in die Kameras gelächelt.

Herzlicher Händedruck im Kreml: die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und der russische Präsident Wladimir Putin am 9. November 2007
Foto: Alexander Zemlianichenko/AP Pool/Keystone

Die beiden feierten das frisch unterzeichnete Memorandum of Understanding zu den Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Die Aussenministerin sprach von «warmherzigen Gesprächen», ihr russischer Amtskollege Sergei Lawrow betonte die Bedeutung der Schweiz als Wirtschaftspartner und Investor.

Über gewalttätige Niederschlagungen von regierungskritischen Demonstrationen äusserte die offizielle Schweiz das übliche «Bedauern».

Kritik aus dem Aussendepartement

Innerhalb von Calmy-Reys Departement war die Einschätzung zu Russland allerdings schon damals kritisch. Die Menschenrechtslage sei «alles andere als befriedigend», heisst es in einer vertraulichen Aktennotiz vom 14. November 2008.

Es gebe «regelmässig Berichte über Misshandlungen auf Polizeistationen», und auch die Situation in den Haftanstalten entspreche «in keiner Weise internationalen Standards». Zudem sei der Staat Russland in «verschiedene bewaffnete Konflikte» innerhalb seines Territoriums involviert.

Vor diesem Hintergrund sei klar: Eine Ausfuhr der Thuner Waffen verstosse gegen die Kriegsmaterialverordnung. Ein klares Verdikt der zuständigen Bundesbehörden, dem EDA und des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco. Mit Stempel vom 19. November 2008 wurde das Njet aus Bern besiegelt.

Ein diplomatisches Dilemma

Doch der Ablehnungsentscheid kam zu einem politisch heiklen Zeitpunkt. Die Planung des ersten russischen Staatsbesuchs in der Geschichte der Schweiz war in vollem Gang. Im Juni 2009 wollte der Bundesrat eine Delegation um den damals amtierenden Präsidenten Dmitri Medwedew in Bern empfangen.

Parallel dazu führte die Schweiz auch streng vertrauliche Verhandlungen über ein Doppel-Schutzmachtmandat, um die diplomatischen Interessen Russlands in Georgien und umgekehrt zu vertreten. Noch im August 2008 hatten sich die Länder im Kaukasuskrieg bekämpft.

Auch um diese Verhandlungen nicht zu gefährden, suchte man in Bern fiebrig nach einer Lösung.

Plötzlich geht es um «VIP Protection»

Der diplomatische Druck war gross. In den Dokumenten des EDA, die dem Beobachter vorliegen, ist von «diversen Interventionen» des stellvertretenden Aussenministers Wladimir Titow die Rede. In Bern beklagten russische Diplomaten einen «Generalverdacht gegen Russland». In Moskau wurde wegen angeblich «diskriminierender Praxis» der damalige Schweizer Botschafter einbestellt.

Die Lösung fand man im Kleingedruckten, konkret in der sogenannten Nichtwiederausfuhrerklärung. Diese vertragliche Verpflichtung, Waffen nicht an Dritte weiterzugeben, soll sicherstellen, dass Schweizer Kriegsmaterial nicht in bewaffneten Konflikten eingesetzt wird. In ihr muss auch der Verwendungszweck angegeben werden. Auf dem ersten Gesuch aus Moskau lautete dieser noch: «Police Applications» – Polizeiaufgaben.

Auf dem ansonsten identischen Gesuch, das einige Monate später in Absprache mit dem EDA erneut eingereicht wurde, stand dann: «VIP Protection» – Schutz von wichtigen Personen.

Damit sei «ausreichend sichergestellt», dass die Waffen nicht gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden, hielt die Behörde in der «Wiedererwägung» fest. Diese Neubeurteilung sei «im Hinblick auf die geplanten Besuche» des russischen Präsidenten vorzunehmen. Es sei «eine Güterabwägung zwischen der kleinen Lieferung und dem politischen Schaden in den bilateralen Beziehungen».

Das sagt Calmy-Rey heute zum Fall

Letztlich seien auch die Verhandlungen über das georgische Schutzmachtmandat ausschlaggebend gewesen, sagt alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey dem Beobachter rückblickend. Diese seien schwierig gewesen und hätten sich über Wochen hingezogen. Denn auch Schweden habe das Mandat gewollt, so Calmy-Rey: «Die Güterabwägung trug dazu bei, dass im März 2009 das Doppelmandat unterzeichnet werden konnte.»

Die ehemalige Aussenministerin findet, der Entscheid sei damals im Gesamtinteresse der Schweiz gewesen. Und er zeige, wie wichtig es sei, dass der Bundesrat in ausserordentlichen Situationen Handlungsspielraum habe bei Kriegsmaterialexporten: «Das Mandat stärkte die Rolle der Schweiz als neutrale Vermittlerin, und wir erhielten privilegierten Zugang zu der damaligen Weltmacht und dem wichtigen Handelspartner Russland.»

Der Bundesrat solle darum die Kompetenz haben, «im Falle ausserordentlicher Umstände und zur Wahrung der Interessen der Schweiz von den Bewilligungskriterien für Auslandsgeschäfte abzuweichen».

Im EDA war die Neubeurteilung umstritten

Intern war man sich in Calmy-Reys Departement über diese Neubeurteilung der Waffenlieferung an den Kreml allerdings überhaupt nicht einig. So ist den Akten zu entnehmen, dass sich von den vier konsultierten Personen im EDA zwei mit dem neuen VIP-Zweck zufriedengaben, zwei nicht.

Eine von ihnen warnte: Die Waffen seien «zur Aufstandsbekämpfung geeignet». Nach drei Kriegen in den letzten 15 Jahren sei die Ausfuhr von Offensivwaffen nach Russland abzulehnen – «auch wenn diese offiziell für den VIP-Schutz bestimmt sein sollen». Doch solche Kritik blieb am Ende zu leise.

Und so stolzierte die russische Delegation um Präsident Medwedew im September 2009 durch Bern, als sei nichts gewesen. Als Geschenk brachte sie zwei junge Bären mit, Mischa und Mascha. Zufrieden verkündete Bundespräsident Hans-Rudolf Merz: «Ihr Besuch stellt einen Höhepunkt dar, der die ausgezeichneten Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten unterstreicht.»

Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew und der damalige Bundespräsident Hans-Rudolf Merz in Bern (21. September 2009)
Foto: Mikhail Klimentiev/Kremlin Pool/Ria Novosti/EPA/Keystone

Der kleine VIP-Trick mit grossen Folgen

Zwei Monate später – ohne dass der heikle Export der Maschinenpistolen publik wurde – lehnte die Stimmbevölkerung die Volksinitiative «Für ein Verbot von Kriegsmaterial-Exporten» ab. Rund zwei Drittel der Abstimmenden legten ein Nein in die Urne.

Damit war der Weg frei für weitere Waffenlieferungen nach Russland. 2013 und 2014 wurden weitere 100 Maschinenpistolen für die Kreml-Bodyguards exportiert, im Gesamtwert von mehr als 500’000 Franken. Wieder dank des VIP-Tricks.

Heikle Waffenexporte werden bis heute so ermöglicht

Bis heute werden so Exportgesuche genehmigt, auch in heikle Staaten. 2016 beispielsweise 10 Sturmgewehre und 30 Maschinenpistolen für den Libanon. «Ausschliesslich an Einheiten zum Schutz politischer Würdenträger (z. B. Präsidentengarden)», schrieb das zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).

Auch als die Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 mit mindestens 194 Toten de facto mit einem Ausfuhrstopp für Kriegsmaterial belegt wurde, schrieb das Seco: Nicht betroffen davon seien «einzelne Faustfeuerwaffen an Diplomaten» sowie «für die türkische Präsidentengarde».

Eine systematische Auswertung, wann und für welche Länder der VIP-Verwendungszweck angegeben wurde, sei nicht möglich, erklärt das Seco dem Beobachter. Dies erfordere eine «manuelle Durchsicht des Archivs», das jährlich mehr als 2000 Genehmigungen enthält.

Gegen den Vorwurf, man umgehe damit das Kriegsmaterialgesetz, verwahre man sich «in aller Deutlichkeit». Nur wenn ein solcher Verwendungszweck «nachvollziehbar» und vom Bestimmungsland offiziell bestätigt sei, könne dieser je nach Bestimmungsland «risikomindernd in die Gesuchsbeurteilung» einfliessen.

Russen posieren mit Schweizer Maschinenpistole in der Ukraine

An Russland jedenfalls gab es seit der Lieferung 2014 keine Waffen mehr aus der Schweiz. Kurz danach – Calmy-Rey hatte sich im selben Jahr von Russland noch einen Freundschaftsorden verleihen lassen – wurde die Krim annektiert. Als Reaktion erliess der Westen Sanktionen, die solche Geschäfte verunmöglichten.

Die Thuner Maschinenpistolen sind aber nach wie vor im Einsatz, wie ein Foto auf Telegram vom März 2024 belegt. Dmitri Rogosin, Mitglied des russischen Oberhauses, posiert darauf mit seinen Leibwächtern und Waffen mitten in einem blühenden Mohnblumenfeld – mutmasslich in der von Russland besetzten Region Saporischschja in der Ukraine.

Der Mann in der Mitte hat eine der Schweizer Maschinenpistolen in der Hand, links neben ihm steht Dmitri Rogosin.
Foto: Telegram/rogozin_do

So berichtete es die «Sonntags-Zeitung» im letzten September. «Wir sind heute entlang der Frontlinie von Einheit zu Einheit gereist, und die Landschaft war wunderschön», schrieb Rogosin in seinem Telegram-Post. Der Politiker sitzt in der von Russland eingesetzten Regierung des besetzten Gebiets und steht auf der Sanktionsliste der Schweiz.

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