Unicef-Chefin Catherine Russell
«Konflikte sind der grösste Feind der Kinder»

Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russell sagt, dass wir vor einer Katastrophe stehen, wieso sie die Schweizer mag – und was den Ukraine-Krieg so gefährlich macht.
Publiziert: 03.07.2022 um 11:10 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 11:40 Uhr
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Catherine Russell ist seit Februar 2022 Exekutivdirektorin von Unicef. Zuvor war sie Direktorin des Personalbüros des Weissen Hauses in Washington DC.
Interview: Dominik Mate und Reza Rafi

SonntagsBlick: Frau Russell, Ihre Organisation ist dazu da, die Welt besser zu machen. Angesichts der vielen Bilder von hungernden Kindern haben Sie da noch einiges zu tun. Wie beurteilen Sie die jetzige Situation?
Catherine Russell: Es droht eine potenzielle Katastrophe, von der wir immer noch hoffen, sie verhindern zu können.

Eine Katastrophe?
Nehmen Sie Äthiopien, ich war kürzlich dort. Es herrscht seit vier, fünf Jahren eine extreme Trockenheit. In diesem Land gibt es Bevölkerungsgruppen, die traditionell dorthin wandern, wo ihre Tiere weiden können. Aber die Tiere finden kein Wasser und sterben. Wenn Sie in Äthiopien reisen, sehen Sie völlig abgemagerte Tiere am Strassenrand. Das ist ein sehr bedrückender Anblick. Nun finden diese Völker also keine Nahrung. Und wer am meisten leidet, sind die Kinder. Es gibt eine ganz verstörende Erfahrung, die ich in diesem Land, aber auch bei Afghanistan gemacht habe.

Welche?
Stellen Sie sich vor, dass Sie in einer Klinik einen Raum mit Babys betreten. Und es herrscht – Stille. Totale Stille. Die Kinder machen keinen Lärm. Das ist gespenstisch, denn wir alle wissen, dass es in einem Raum mit vielen kleinen Kindern eigentlich nie ruhig ist. Aber diese Babys sind derart unterernährt, dass sie gar keine Kraft haben, um zu schreien. Dieses Erlebnis ist wie ein Albtraum, ich werde es nie vergessen.

Was tut die Unicef in solchen Notlagen konkret?
Als Soforthilfe geben wir sogenannten RUTF: «Ready-to-Use Therapeutic Food», also gebrauchsfertiges gesundheitsförderndes Essen. Das ist ein nahrhaftes Präparat aus Erdnussbutter, die mit Öl angereichert ist. Wenn man das den Babys gibt, kommen sie erstaunlich schnell wieder zu Kräften.

Aber es hungern ja nicht nur Babys.
Genau. Auch die Mütter hungern, die ganzen Familien. Das ist nicht nur verheerend für diese Menschen, es ist auch verheerend für diese Staaten. Denn es wirkt sehr destabilisierend für deren politisches System. Dazu kommt oft noch die aufkeimende Gewalt.

Tut die internationale Gemeinschaft genug?
Die G-7 reagieren. Es reicht nicht, ist aber ein guter Anfang. Im Moment sind die Blicke der Welt auf die Ukraine gerichtet, und das ist sehr verständlich. Es gibt einen fürchterlichen Krieg in Europa. Aber der Ukraine-Krieg verdrängt leider sehr viele andere Probleme, aufgrund derer Kinder leiden. Wir müssen auch da hinschauen. Wir können beides bewältigen.

Persönlich

Catherine Mary Russell wurde 1961 im US-Bundesstaat New Jersey geboren und gilt als wahre Macherin. Sie war schon Stabschefin von Jill Biden als Second Lady, Botschafterin der Vereinigten Staaten für globale Frauenfragen, Direktorin des Personalbüros des US-Präsidenten und ist nun seit Anfang 2022 Exekutivdirektorin von Unicef. Als Leiterin des Kinderhilfswerks setzt sie sich insbesondere für das Recht auf Bildung und die Gleichstellung von Mädchen ein.

Catherine Mary Russell wurde 1961 im US-Bundesstaat New Jersey geboren und gilt als wahre Macherin. Sie war schon Stabschefin von Jill Biden als Second Lady, Botschafterin der Vereinigten Staaten für globale Frauenfragen, Direktorin des Personalbüros des US-Präsidenten und ist nun seit Anfang 2022 Exekutivdirektorin von Unicef. Als Leiterin des Kinderhilfswerks setzt sie sich insbesondere für das Recht auf Bildung und die Gleichstellung von Mädchen ein.

Welche Probleme meinen Sie?
Im Jemen etwa tobt nach wie vor ein erbarmungsloser Konflikt. Kinder leiden im Jemen, in Syrien und an vielen anderen Orten.

Gelingt es Ihnen, da zu helfen?
Die Leute reagieren. Gerade die Menschen in der Schweiz reagieren grosszügig. Nicht nur die Zivilgesellschaft, auch die Regierungen. Aber die Bedürfnisse sind enorm. Die Dürren am Horn von Afrika und in der Sahelzone sind nur ein Faktor. Am schlimmsten sind bewaffnete Auseinandersetzungen. Kriege sind der grösste Feind der Kinder. Und die Kinder haben nichts mit den Konflikten zu tun, sie sind unschuldig und werden am meisten in Mitleidenschaft gezogen. Das ist schrecklich zu sehen.

Dazu kommt, dass Russland ukrainische Getreideexporte blockiert.
Das Problem sind die Folgewirkungen des Ukraine-Kriegs. Hier kommt zu einer Nahrungsmittelknappheit noch Inflation hinzu. Die Preise von RUTF zur Behandlung von schwerem Marasmus, einer Mangelerkrankung, sind in den vergangenen Wochen um 16 Prozent gestiegen. Grund dafür ist ein starker Preisanstieg bei den Grundzutaten.

An manchen Orten ist Unicef die letzte verbleibende Hilfsorganisation. Wie schwierig ist es für Sie, an diese Orte zu kommen?
Unicef ist seit mehr als 75 Jahren in Konflikten tätig, wir arbeiten in fast jedem Land. In Afghanistan zum Beispiel sind wir seit Jahrzehnten. Es hilft, dass man uns vertraut. Jede Kriegspartei weiss: Wir sind nur da, um den Kindern zu helfen. Es gibt auch Probleme: An vielen Orten ist die Arbeit gefährlich. Aber wir verfügen über engagiertes, grossartiges Personal.

Sie erleben die Probleme der Menschheit an vorderster Front mit. Was kann die Welt in Zukunft besser machen, um auf grosse Krisen zu reagieren?
Prävention ist der Schlüssel für viele Probleme. In Bezug auf Corona versuchen wir zum Beispiel, den Ländern beim Aufbau ihrer Gesundheitssysteme zu helfen, damit sie schneller und angemessener reagieren können. Ein gutes primäres Gesundheitssystem ist eminent wichtig. Und wenn wir Konflikte von vornherein verhindern könnten, wäre das am besten.

Sie erwähnen die Pandemie. Wie viele Kinder konnten wegen der Corona-Krise nicht zur Schule gehen?
Etwa 147 Millionen haben während der Pandemie mindestens die Hälfte ihrer Schulzeit verpasst. Dieser Bildungsverlust ist dramatisch. Laut Schätzungen konnte vor Corona etwas mehr als die Hälfte der zehnjährigen Kinder in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen keinen einfachen Text lesen und verstehen. Heute sind es gemäss Schätzungen eher 70 Prozent, mancherorts sogar mehr. Wir bemühen uns gemeinsam mit diesen Ländern sehr intensiv darum, die Kinder zurück in die Schule zu bringen und ihnen zu helfen, wieder Anschluss zu finden.

Was unternimmt Unicef konkret gegen dieses Bildungsdefizit?
Im September findet in New York ein Bildungsgipfel statt. Dazu analysieren wir momentan weltweit Bildungssysteme und suchen Wege, sie zu optimieren. Wir müssen uns vor allem auf die Grundlagen konzentrieren. Kinder müssen zuerst lesen und rechnen lernen, bevor man an andere Dinge denken kann.

In vielen Ländern wurden in der Pandemie die Schulen geschlossen, auch in der Schweiz. War das eine gute Idee?
Weltweit haben die Regierungen versucht, das Beste zu tun, um ihre Bevölkerung zu schützen. Es war mit Sicherheit eine schwierige Entscheidung, die Schulen zu schliessen, und in manchen Fällen vielleicht auch die richtige Entscheidung. Dennoch: Schulschliessungen sind für Kinder schrecklich. Aus Sicht von Unicef – und das ist wahrscheinlich eine Lehre für die Zukunft – ist es am besten, die Schülerinnen und Schüler so lange wie möglich in den Schulen zu behalten und sie so schnell wie möglich wieder zurückzubringen. Das sollte die absolute Priorität sein.

Experten empfehlen den verstärkten Einsatz von digitalen Lernangeboten. Was ist Ihre Meinung dazu?
Man braucht zuerst die Grundlagen. Die Kinder müssen wissen, wie man lernt – und dafür sind Lehrer wichtig. Digitale Lernangebote können enorm hilfreich und wichtig sein, aber man darf nicht vergessen, dass sehr viele Kinder auf der Welt gar keinen Zugang dazu haben.

Sie haben auch mit Ländern zu tun, in denen Mädchen nicht die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben wie Jungen. Als Frau an der Spitze einer mächtigen Organisation könnten Sie ein Vorbild sein.
Mein Hintergrund ist die Arbeit mit Frauen und Mädchen, darum bin ich sehr wachsam, was dieses Thema angeht. Für alle Kinder ist es schwer, aber für Mädchen ist es meistens noch etwas schwerer. Es ist interessant zu sehen, dass in einigen westlichen Ländern mehr Mädchen als Jungen einen Schulabschluss machen – aber in vielen Ländern ist es leider für Mädchen immer noch schwieriger, in der Schule zu bleiben. Darauf fokussieren wir uns derzeit. Aber auch auf andere Formen von Diskriminierung.

Welche Arten der Benachteiligung sprechen Sie da an?
Es gibt auch Fälle, in denen Kinder mit Behinderungen nicht in den Schulalltag einbezogen werden. Ich habe in Pakistan ein Mädchen getroffen, das im Rollstuhl sass. Es sagte mir, dass es deswegen zu Hause unterrichtet werden muss. So geht das aber nicht. Kinder mit Behinderungen sind an manchen Orten fast unsichtbar. Wir arbeiten hart daran, dass diese Kinder von den Verantwortlichen berücksichtigt werden.

In Staaten wie Pakistan oder Afghanistan scheint sich die Lage im Hinblick auf Gleichstellung zu verschlechtern.
An manchen Orten war es schon immer schwierig, und Konflikte verschlimmern die Situation noch. Das Interessante an Unicef ist für mich, dass wir wissen, was zu tun ist. Wir müssen nur in der Lage sein, es auch zu tun. Aber dafür brauchen wir die nötigen Ressourcen. Wir verbessern die Situation für viele Kinder, ich kann das vor Ort sehen. Aber Sie haben recht: Die Herausforderungen sind massiv.

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