Diesen Herbst stellen sich mindestens 22 Personen mit einer Behinderung zur Wahl in den National- und Ständerat. Damit könnte sich der Anteil beeinträchtigter Menschen im Parlament verbessern. Doch selbst wenn praktisch alle gewählt würden, wäre angesichts der 1,8 Millionen Leute mit einer Behinderung ihr Anteil in den Räten nur halb so gross wie in der Bevölkerung.
Während nämlich gut jede fünfte Person im Land eine Beeinträchtigung hat, wären es im Parlament bloss gegen 10 Prozent Behinderte. Die Frage stellt sich dennoch: Ist das Bundeshaus gewappnet für mehr Rollstuhlfahrer oder gehörlose Parlamentsmitglieder?
Denn für Menschen mit Beeinträchtigung bestehen im Alltag nach wie vor zahlreiche Hürden. Das gilt auch fürs Bundeshaus. Dort geht es um barrierefreie Zugänge und um die Finanzierung von allenfalls benötigten Assistenzen.
Massive Untervertretung
Die Beeinträchtigten, die sich am 22. Oktober zur Wahl stellen, haben sich mit der Unterstützung der Organisation Pro Infirmis zur sogenannten «Behindertenliste» zusammengeschlossen.
Einige von ihnen haben bereits politische Erfahrung auf Gemeinde- oder Kantonsebene gesammelt. Mitglied des Bundesparlaments ist seit 2012 aber nur Christian Lohr (61). Der Mitte-Nationalrat wurde ohne Arme geboren, seine Beine sind deformiert. Er sitzt im Rollstuhl.
Physische Hürden wohl kein Problem
Lohrs Beispiel, aber auch die Behinderten-Session belegen, dass das Bundeshaus grundsätzlich bereit ist für Politiker mit Behinderungen. Letzteres bestätigt auch ein Sprecher von Pro Infirmis: «Die Behinderten-Session im März hat gezeigt, dass der Einzug von Menschen mit Behinderungen aller Art möglich ist, sofern der Wille da ist.»
Ausserdem ist der Bund durch die Uno-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, Menschen mit Einschränkungen eine selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen, auch im Berufsleben. «In einigen Bereichen wird es sicher noch Optimierungen und Weiterentwicklungen geben nach der Wahl», so Pro Infirmis.
Es bleibt abzuwarten, wie viele von ihnen es tatsächlich nach Bern schaffen. Doch je mehr es sind, desto grösser sind die Anforderungen fürs Personal im Bundeshaus.
«Ungleiche Spiesse»
Doch bereits der Wahlkampf erweist sich als erste Hürde: «Die Personalkosten, die ich habe, um meine Behinderungen wettzumachen, betragen über 50 Prozent meines Kampagnenbudgets. Das sind nicht gleich lange Spiesse», bemängelt SP-Nationalratskandidat Islam Alijaj (37) aus Zürich. Alijaj leidet an Zerebralparese, er sitzt deshalb im Rollstuhl und braucht Sprachassistenten.
Chancengleichheit existiere höchstens auf dem Papier. «Wir müssen zuerst einmal unsere Behinderung ausgleichen, solange das nicht vollumfänglich finanziert ist, gibt es keine Gleichberechtigung», sagt auch Simone Leuenberger. Und sie muss es wissen: Die Nationalratskandidatin der EVP sitzt im Rollstuhl und politisiert dennoch seit mehreren Jahren im Berner Grossen Rat. Zur Unterstützung hat sie persönliche Assistentinnen angestellt.
Die Kosten für die Assistenzleistungen enden aber auch nicht mit einer Wahl ins Bundeshaus. Um ein Mandat als National- oder Ständerat wahrnehmen zu können, sind Menschen mit Behinderung auch während der Legislatur auf Unterstützung angewiesen, beispielsweise für Übersetzungen in Gebärdensprache. Die IV zahlt jedoch bei einem Vollzeitpensum maximal zwei Assistenzstunden pro Arbeitstag.
Die Leistungen reichen nicht
Das reiche vorne und hinten nicht, findet die Bernerin. Simone Leuenberger resümiert: «Mit den Leistungen, die im Moment vorgesehen sind, ist es je nach Behinderung nicht möglich, ein Mandat auszuüben.» Die Politikerin fordert deshalb, dass der tatsächliche und individuelle Unterstützungsbedarf aufgrund der Behinderung entschädigt wird.
Dies würde sicher auch Christian Lohr entgegenkommen. Denn der Mitte-Politiker finanziert seine Assistenten bisher aus eigener Tasche. Bis zur tatsächlichen Chancengleichheit ist also es noch ein weiter Weg.