Tekle A.* (43) kommt zehn Minuten früher als vereinbart – obwohl ihre Tage ziemlich voll sind. Die Eritreerin ist alleinerziehende Mutter, Betreuungsassistentin im Hort und Projektkoordinatorin bei einem Flüchtlingsverein. Einmal pro Woche geht sie in die Schule.
«Ich verdiene gut», erklärt sie, während sie zackigen Schrittes durch den Hauptbahnhof marschiert, «aber leider reicht es nicht aus.» Zusätzliche Unterstützung erhalte sie vom Sozialamt. «Noch», sagt sie. «Hoffentlich brauche ich das Geld bald nicht mehr.»
Tekle A. und ihre zehnjährige Tochter sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel: Mehr als 80 Prozent der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen in der Schweiz beziehen Sozialhilfe. Angesichts des Arbeitskräftemangels in der Schweiz ist das ein überraschend hoher Anteil.
Viele verdienen nicht genug
Doch die Sozialhilfequote beschreibt nicht die ganze Wahrheit. Einerseits, weil ein Grossteil der Empfänger Kinder sind – und die Quote grösser erscheinen lässt. Andererseits liegt die Erwerbsquote von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen bei über 40 Prozent. Heisst: Viele, die Sozialhilfe beziehen, arbeiten.
Ein Widerspruch?
Nein, sagt Sibel Karadas (46), Integrationsdelegierte des Kantons Aargau: «Bei einer Familie mit Kindern reicht der Lohn eines Elternteils meist nicht aus», um von der Sozialhilfe wegzukommen. Gerade, wenn es sich um eine schlecht bezahlte Stelle handelt. Damit beide Eltern arbeiten können, müsste allerdings die Kinderbetreuung sichergestellt sein. «Das bereitet oftmals Schwierigkeiten», sagt Karadas. «Es fehlt ja schon generell an Kitaplätzen.»
Mit anderen Worten: Viele Familien gehören wie Tekle A. zu den «Working Poor», sie arbeiten, verdienen aber zu wenig zum Leben. Zudem müssen viele Flüchtlingsfrauen der Kinder wegen zu Hause bleiben, statt beispielsweise einen Sprachkurs zu belegen.
Hinter der hohen Sozialhilfequote stecken auch, wie Karadas sagt, «individuelle Faktoren»: Manche Flüchtlinge haben nur wenige Jahre die Schule besucht. Andere sind traumatisiert oder physisch beeinträchtigt. «Es gibt also einen Anteil von Personen, die nie voll in den Arbeitsmarkt werden eintreten können», so Karadas.
Schleppende Asylentscheide
Eine Erwerbsquote von 80 Prozent – so hoch ist sie in der Gesamtbevölkerung – ist für sie unrealistisch. Auch der Bund hat indirekt zu dieser Notlage beigetragen. Viele, die 2015 mit der grossen Flüchtlingswelle in die Schweiz kamen, erhielten ihren Asylentscheid erst drei oder vier Jahre später. Doch ohne dieses Papier gibt es keine Förderung: keine Sprachkurse, keine Ausbildung. «Bei dieser Gruppe stellen wir einen grossen Nachholbedarf fest», bestätigt Nina Gilgen (55), Leiterin der Fachstelle Integration des Kantons Zürich.
Und wie sieht es mit der persönlichen Motivation der Geflüchteten aus? Tekle A. hat durch ihre Arbeit viel Kontakt zu anderen Flüchtlingen. Die meisten wünschten sich finanzielle Unabhängigkeit. Aber für manche, sagt sie, «ist es schwierig zu verstehen, warum sie trotz Arbeit am Ende des Monats nur ein paar Hundert Franken mehr auf dem Konto haben, als wenn sie ganz von Sozialhilfe leben». Sie erkläre den Betroffenen dann jeweils: «Es ist in eurem eigenen Interesse, von der Sozialhilfe wegzukommen.»
A. selbst kann im nächsten Jahr eine Lehre als Fachfrau Betreuung beginnen – neun Jahre nach ihrer Ankunft in der Schweiz. Und zwar in jenem Hort, in dem sie heute als Assistentin arbeitet. Sie ist zuversichtlich, finanziell bald ganz auf eigenen Beinen zu stehen. Als Betreuungsassistentin kann sie nämlich lediglich in einem kleinen Pensum arbeiten: «Wir kommen als Unterstützung zum Einsatz», sagt sie. Da mittwochs und freitags weniger Kinder im Hort sind, braucht es an jenen Tagen keine Assistenten.
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Integrationsvorlehre soll helfen
A.s Beispiel zeigt exemplarisch: Ohne anerkanntes Diplom finden manche Flüchtlinge zwar eine Arbeit. Die aber ist häufig schlecht bezahlt und ihre Lage prekär – die Chancen, langfristig von der Sozialhilfe wegzukommen, stehen damit schlecht.
Bund und Kantonen ist dieses Dilemma bekannt. 2019 trat die Asylreform in Kraft. Dank beschleunigter Verfahren soll der grösste Teil der Asylsuchenden innerhalb von fünf Monaten einen Asylentscheid erhalten. Ebenfalls seit 2019 gilt die sogenannte Integrationsagenda: Flüchtlinge sollen nun so rasch wie möglich einen Sprachkurs besuchen und eine Ausbildung absolvieren können. Dazu dient auch die neu geschaffene Integrationsvorlehre. Denn auf dem technisierten Schweizer Arbeitsmarkt haben unqualifizierte Arbeitskräfte zunehmend schlechtere Chancen.
Eines der Ziele der Integrationsagenda lautet: Sieben Jahre nach der Einreise soll die Hälfte der Geflüchteten «nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert» sein. Dass dies durchaus erreichbar ist, zeigt eine Analyse des Bundes. Von allen Flüchtlingen, die 2014 in die Schweiz kamen, hatten sieben Jahre nach der Einreise rund 55 Prozent eine Stelle (siehe Grafik). Diese Gruppe ist somit besser integriert als Flüchtlinge, die später kamen und deren Erwerbsquote heute bei den genannten 40 Prozent liegt.
Vom Sozialamt wegkommen
Nina Gilgen von der Fachstelle Integration in Zürich ist optimistisch, dass die Integration auch bei denen gelingen wird, die nach 2015 in die Schweiz gekommen sind. «Es ist eine Frage der Zeit, bis sich die Erwerbsquote erhöht», sagt sie. «Die Massnahmen der Integrationsagenda fangen erst an zu wirken.»
Optimistisch blickt auch Tekle A. in die Zukunft. Sie freut sich darauf, nächstes Jahr ihre Lehre zu beginnen. «Mein Ziel ist es, vom Sozialamt wegzukommen und meiner Tochter ein gutes Vorbild zu sein», sagt sie. «Ich will für sie eine starke, unabhängige Mutter sein.»
*Name geändert