Schon als junges Mädchen wollte Marion Vassaux (21) Tierärztin werden. Für ihren Traum ist sie bis vor Bundesgericht gegangen. Gemeinsam mit Inclusion Handicap, dem Dachverband für Menschen mit Behinderungen, hat sie im vergangenen Mai eine Beschwerde eingereicht.
Denn: Die Waadtländerin hat Dyslexie, also eine Lese- und Rechtschreibstörung. Deswegen hat sie bei Prüfungen Anspruch auf mehr Zeit. So will es das Gleichstellungsgesetz. Allerdings nicht beim Numerus Clausus, der Zulassungsprüfung für das Veterinärstudium, fand die Universität Bern, wo Vassaux ab 2021 studieren wollte.
Das oberste Schweizer Gericht musste sich am Dienstag in einem Präzedenzfall darum mit der Frage auseinandersetzen, wer an einer Aufnahmeprüfung für eine Universität wie viel Zeit erhält.
Hitzige Debatte
Die Richter kamen nach einer hitzigen Debatte mit 3:2 Stimmen zum Schluss: Eine unabhängige Expertise soll zeigen, ob ein Zeitzuschlag beim Eignungstest für das Tiermedizin-Studium möglich ist. Es hat den Fall an die Vorinstanz zurückgewiesen, das Berner Verwaltungsgericht. Die öffentliche Beratung vom Dienstag wurde in Gebärdensprache übersetzt – eine Premiere in der Geschichte des Bundesgerichts.
Mehr zu Lese- und Rechtschreibschwäche
«Dies ist ein wichtiger Etappensieg für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen», sagten die Beschwerdeführer nach dem Urteil. Gleichzeitig hoben sie auch den grossen Mut und das Engagement von Vassaux heraus, die das Verfahren initiiert hat.
Dyslexie ist angeboren und gilt deshalb rechtlich als Behinderung. Betroffene wie Vassaux haben Probleme, Buchstaben den Lauten zuzuordnen – und umgekehrt. Sie lesen langsamer, können Wörter schlecht entziffern, schreiben fehlerhaft.
Weil Dyslexie für angehende Studierende ein Hindernis darstellt, gleichen viele Schweizer Universitäten diesen Nachteil aus: mit einem Zeitbonus bei Prüfungen. Auch die Uni Bern hätte Vassaux bei Prüfungen mehr Zeit gewährt. Weil aber mehr Studierende Veterinärmedizin studieren wollen, als Studienplätze zur Verfügung stehen, ist der Numerus Clausus nötig.
Biomedizin-Studium in Genf
Dafür allerdings wollte die Uni Vassaux nicht mehr Zeit gewähren. Ihr Argument: Der Numerus Clausus sei ein Wettbewerb, um die besten Talente zu selektieren. Mit einer Zeitverlängerung wären die Resultate nicht mehr vergleichbar. Zudem hätte Vassaux damit gegenüber den anderen Teilnehmenden einen Vorteil.
Marion Vassaux hat den Numerus Clausus trotzdem gemacht – und ist gescheitert. Daraufhin hat sie Beschwerde eingelegt. Mit der Begründung, die Zeitverlängerung diene einzig dazu, ihre Dyslexie zu kompensieren. «Wenn ein Pferd eine Kolik hat, muss man die Symptome erkennen und rasch handeln. Die Lese- und Schreibschwäche hindert mich ja nicht daran», sagte sie vergangenes Jahr dem «Beobachter». Die Uni Bern, der Berner Regierungsrat und schliesslich das kantonale Verwaltungsgericht sahen das anders.
Nach dem Bundesgerichtsurteil muss das Berner Gericht nochmals über die Bücher. Weil die Mühlen der Gerechtigkeit allerdings langsam mahlen, hat sie ihren Traum vom Studium der Veterinärmedizin an der Uni Bern vorerst vertagt – und studiert derzeit Biomedizin in Genf.