Der Davosersee glänzt in der Mittagssonne, Menschen in schwarzen Mänteln, Hüten und langen Röcken spazieren am Ufer entlang. Auf gemieteten Stand-up-Paddelboards gleitet eine Gruppe Mädchen langsam ans Ufer, ihre Badekleider reichen bis ans Knie. Die Mutter macht Fotos, die Haare stecken unter einer schwarzen Haube.
«Wir wollen pünktlich sein», sagt sie später auf dem Weg zur Bergbahn, ihrem nächsten Tagesziel. Und witzelt: «Damit wir keine Probleme machen.» Die Familie möchte ihre Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Sie ist jüdisch-orthodox. Im Sommer in Davos GR wird das plötzlich besonders wichtig. Sie wollen nicht anecken. Auch für andere jüdische Gäste lesen sie mal den Abfall auf oder sagen jüdischen Kindern, sie sollen nicht mit den Schuhen aufs Trampolin. «Wir spüren diese Verantwortung. Weil viele Davoser schliessen von einer jüdisch-orthodoxen Person auf alle.»
Im Sommer gleicht Davos einem jüdischen Viertel
Jeden Sommer verbringen mehrere Tausend jüdische Touristen ihre Sommerferien in Davos. Die Gemeinde gleicht dann einem jüdischen Viertel einer Grossstadt. Dass das nicht nur auf Gegenliebe stösst, wurde spätestens im vergangenen Februar klar. Ein Aushang bei der Bergbahn Pischa informierte jüdische Touristen auf Hebräisch, dass man ihnen keine Schlitten vermiete.
Der Fall schlug Wellen über die Landesgrenzen hinaus, die Bündner Gemeinde sah sich mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert. Schon zuvor sorgten Spannungen zwischen Einheimischen und jüdisch-orthodoxen Besuchern für Schlagzeilen. In der Hoffnung auf Beruhigung wurde der erfahrene Ex-Spitzendiplomat und frühere Staatssekretär Michael Ambühl (72) zurate gezogen. Mit einem Zehn-Punkte-Plan soll zwischen jüdischen Touristen und Einheimischen vermittelt werden.
Tehilla klärt Missverständnisse auf
Zu diesem Plan gehört auch Tehilla (23), eine der jüdischen Vermittlerinnen im Projekt Likrat Public. Diesen Sommer wurde das Projekt in Davos erweitert, jetzt sind täglich etwa zehn Vermittlerinnen und Vermittler im Einsatz, um Missverständnisse aufzuklären.
Tehilla beobachtet an der Bergbahn zur Schatzalp eine jüdische Grossfamilie. Ein kleiner Junge versucht unter dem Drehkreuz hindurchzulaufen, woraufhin ein Angestellter den Vater darauf hinweist, dass auch der Junge ein Ticket brauche. Der Vater widerspricht, sie beginnen zu diskutieren. Tehilla greift ein, erklärt mithilfe einer Broschüre die Preise und betont, dass sie für alle gleich sind. Der Vater kauft schliesslich ein Ticket für den Sohn. Jüdische Gäste würden oft den Verdacht hegen, dass die Preise extra für sie erhöht werden, erzählt Tehilla später.
Bitte «Grüezi» sagen
Sie gibt die Broschüre auch an Gäste ab. Dort steht drin, wie die Schweizer ticken, dass sie leise und pünktlich sind. Dass man «Grüezi» sagen oder beim Einsteigen in den Bus warten soll, bis alle Passagiere ausgestiegen sind. «Viele Probleme gehen auf Unwissen auf beiden Seiten zurück», sagt Tehilla. Jüdische Touristen kommen oft aus Israel oder den USA. Dort gebe es andere Sitten.
«Das Hauptproblem sind die unterschiedlichen Lebensarten», sagt auch Jonathan Kreutner (45) vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG). «Orthodoxe Familien haben mehr Kinder, treten oft in grösseren Gruppen auf, konsumieren wenig, weil sie Koscher essen. Viele kennen Schweizer Eigenheiten nicht.» Das habe oft gar nichts mit der Religion zu tun, sondern mit der Herkunft aus anderen Ländern, einer anderen Kommunikationsart.
Manchmal würden gewisse Situationen hier auch hochgeschaukelt, findet die Familie am See. «Wenn eine Gruppe junger Menschen Müll am Zürichsee liegen lässt, sagt niemand etwas. Hier gibts dann ein Drama, weil auf jüdisch-orthodoxe Touristen geschlossen wird.»
Bei einigen bleibt der Frust
Tehilla ist seit 2018 bei Likrat im Einsatz. Diesen Sommer würden sich beide Seiten mehr Mühe geben, Missverständnisse vorzubeugen, sagt sie.
Bei Daniel Bachmann (49) klappt das ganz gut. Seit neun Jahren ist er Pächter eines Restaurants in Davos. Tehilla hat ihm ein Schild auf Hebräisch übersetzt, das orthodoxe Gäste zum Konsum auffordert. Bachmann muss zwar aufpassen, dass er das Schild nicht verkehrt herum aufhängt, aber seither hat sich die Situation für ihn ein wenig entspannt. Grosse Gruppen würden jetzt meist mehr bestellen als eine Cola mit fünf Pappbechern.
Anderswo ist die Suche nach Verständnis anstrengender. Nathalie (36) arbeitet als Verkäuferin am Kiosk an der Schatzalp. Die koscheren Glacesorten hat der Laden kürzlich aus dem Sortiment genommen. Sie seien nicht für alle Gruppierungen koscher gewesen, das sei kompliziert geworden.
Beim Trottiverleih im Sertigtal würden jüdische Touristen oft wenig konsumieren oder den ganzen Spielplatz belegen, erzählt Annalies Biäsch (56), die den Verleih mit der Familie betreibt. Andere Touristen kämen dann nicht mehr. «Wir müssen dann mit dem Umsatzverlust leben. Das ist unser Los.»
Die Vermittlungskünste in Davos kennen also auch ihre Grenzen. Vermitteln könne man nur dort, wo auch Wille bestehe, sagt Jonathan Kreutner. Ein Tag mit Tehilla zeigt: Manchmal wollen die Leute einander zwar verstehen, aber kompliziert bleibt es trotzdem.
Der Trick mit dem Reden
Gegen Vorfälle wie jener von vorletzter Woche, als in Davos ein 19-jähriger Orthodoxer angegriffen worden ist, haben die Vermittelnden nichts in der Hand. Der SIG wehrt sich dezidiert gegen jegliche antisemitische Haltungen: «Wenn Leute aufgrund einer schlechten Erfahrung auf eine ganze Gruppe schliessen, dann hört unsere Vermittlung auf. Wir wehren uns mit Händen und Füssen gegen Diskriminierung», sagt Kreutner.
Das bleiben allerdings Einzelfälle. Viele, mit denen Blick gesprochen hat, betonen als Erstes, wie wohl sie sich hier fühlen. Auf der Schatzalp trifft Tehilla auf die jüdische Familie Paley. Sie bedankt sich bei Tehilla, man wisse die Mühe zu schätzen, die man sich in Davos für die jüdisch-orthodoxen Touristen macht. Und in der Bergbahn finden zwei Zürcherinnen mit Rollkoffern: «Das mit dem Reden ist immer ein guter Trick.»