Der Ort ist nicht zufällig gewählt: Kommende Woche treffen sich in Saint-Imier BE Anarchistinnen und Anarchisten aus der ganzen Welt. Denn: Im bernjurassischen Städtchen wurde im September 1872 die Antiautoritäre Internationale ins Leben gerufen.
Der Verein «150 Jahre Kongress von Saint-Imier» hat am Montag den Rahmen des internationalen Treffens in der bernjurassischen Stadt vorgestellt. Geplant sind 268 Konferenzen und Workshops, 48 Konzerte, 42 Filme, 11 Theaterstücke, 7 Ausstellungen und eine Buchmesse an zwölf Orten im 5000-Seelen-Ort, wie Mitglieder des Vereins sagten. Das Treffen startet am 19. Juli und dauert fünf Tage. Erwartet werden rund 4000 Personen.
Keine Autorität – egal in welcher Form
Am Anlass sollen die Teilnehmenden gemeinsam über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen reflektieren. Das Treffen diene auch dazu, die Bindungen zwischen den Personen, die sich als Anarchistinnen bezeichnen, zu stärken. Es soll auch andere überzeugen, sich der Bewegung anzuschliessen.
Anarchistinnen und Anarchisten lehnen die Autorität in allen Formen ab – egal, ob sie staatlich, wirtschaftlich oder gesellschaftlich sind. Der Verein mache aber nichts Illegales und habe auch mit der Berner Kantonspolizei Kontakt, so die Veranstalter.
Denn: Anarchie bedeute nicht Chaos und fehlende Ordnung, betonen die Veranstalter. Vielmehr gehe es um eine Bewegung, die sich gegen jede zentralistische und autoritäre Macht wende.
Saint-Imier – das Zentrum der Anarchie
Mit dem Treffen in Saint-Imier erinnern die Anarchisten an ein Ereignis der Zeitgeschichte: Im unscheinbaren Uhrmacher-Dörfchen wurde im September 1872 die Antiautoritäre Internationale ins Leben gerufen. Das 150-Jahr-Jubiläum sollte 2022 gefeiert werden, wurde aber wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben.
Das Treffen von 1872 war eine Folge eines Richtungsstreits in der Arbeiterbewegung. Karl Marx (1818–1883) und seine Anhänger strebten eine zentrale Führung an, anders als der russische Revolutionär Michail Bakunin (1814–1876). Mit 14 Gleichgesinnten aus Europa und den USA gründete Bakunin in Saint-Imier die Antiautoritäre Internationale. Sie warfen Marx autoritäres Gebaren und diktatorischen Zentralismus vor.
Der Berner Jura mit seiner gebeutelten Uhrenindustrie war damals offen für die Theorien des Anarchismus. Vieles war im Umbruch, die Globalisierung verunsicherte das Uhrmacher-Personal. Sie träumten von einem besseren Leben und einer herrschaftsfreien Welt ohne Ausbeutung.
Von Bakunins Ideen ist wenig übrig
Bloss: Das meiste geriet im Lauf der Zeit in Vergessenheit. Bis heute erhalten blieb in Saint-Imier immerhin das Gebäude, in dem einst der Kongress stattfand. Seit 2017 gibt es sogar eine Rue Bakounine im 5000-Seelen-Ort.
Von den Ideen des Russen – gegen den Privatbesitz, gegen den Staat, für die individuelle Freiheit aller – blieb allerdings auch an der Rue Bakounine wenig übrig. «Es ist eine Sackgasse, flankiert von Einfamilienhäusern und Privatgärten», schrieben unlängst die Tamedia-Zeitungen. «Bakunin würde sich in seinem Grab in Bern umdrehen, wenn er das vernähme.» (oco/SDA)