«Ich gebe Uhren ein zweites Leben»
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Jurassischer Uhrenmacher:«Ich gebe Uhren ein zweites Leben»

Das Jura-Studium für alle
Im wildesten Eck der Schweiz

Zum ersten Mal kommt mit Elisabeth Baume-Schneider eine Bundesrätin aus dem Jura. Aber wie gut kennen wir unseren Wilden Westen eigentlich? Auf Entdeckungstour durch einen Kanton mit eigenwilligem Charme.
Publiziert: 17.12.2022 um 20:12 Uhr
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Schlagartig verstummt der Beizentisch im Mittelalterstädtchen Saint-Ursanne. Sechs Gesichter tauschen nachdenkliche Blicke. «Wisst ihr eigentlich, dass wir Deutschschweizer euren Kanton kaum kennen?», hatte die Frage gelautet. Einer der Jurassier haut mit flacher Hand auf den Tisch: «Na, dann müsst ihr halt mal hierherkommen!» Schallendes Gelächter. Und das Gespräch geht weiter.

Wer mit dem Zug durch Moutier und weiter fährt, gerät nach wenigen Minuten in eine tiefe Schneise. Der Zug schlängelt sich einem petrolblauen Flüsschen entlang durch den Fels. Das Tor zum Kanton Jura. Dahinter: Achthundert Quadratkilometer nahezu unbekannte Schweiz. Ohne grössere Städte, dafür mit langer Grenze zu Frankreich.

Klirrend kalt aber wunderschön: Der Blick vom alten Wehrturm aus über das Mittelalterstädtchen Saint-Ursanne.
Foto: Lea Ernst

Immer wieder verschluckt ein Tunnel die Sicht auf schneebedeckte Tannen. Und dann ist man auch schon da. Der Fels öffnet sich zu einer Ebene. Sanfte Hügel, weite Weiden, Wald. Man fährt vorbei an Industriegebäuden, Lagerhallen mit zerbrochenen Fenstern und meterhoch gestapelten Heuballen. Im Kreisel kreuzen sich Traktor und Pferdeanhänger.

Die zwei arbeiten in derselben Postfiliale, haben sich jedoch am Kaffeeautomaten kennengelernt.
Foto: Lea Ernst

Der Jura – ein französischsprachiger Kanton, der es mit Elisabeth Baume-Schneider (58) zum ersten Mal in den Bundesrat geschafft hat. Und der von einem bäuerlichen Parlamentarier jüngst als «gottvergessene Pampa mit ein paar Schwarznasenschafen» beschrieben wurde. Auch Begriffe wie Wilder Westen der Schweiz, Pferdeparadies oder Zentrum der Uhren und Anarchisten fallen. Aber sind wir ehrlich: Viel mehr wissen wir auf der anderen Seite des Röstigrabens kaum. Eine Entdeckungstour soll das ändern.

Pflaumenschnaps im jüngsten Kanton der Schweiz

Schneeflocken fegen durch das Doubstal über die historische Steinbrücke und das Kopfsteinpflaster in Saint-Ursanne. Inzwischen ist es dunkel geworden. Hin und wieder öffnet sich die Tür zum Restaurant du Jura, gleich neben der alten Stadtmauer. Kurz weht Stimmengewirr durch die engen Gassen. Das sei eben noch eine richtige Beiz, sagt die Nachbarin aus dem Holzlädeli. Keine «Schickimicki-Bar».

Drinnen am Beiztisch trinken die sechs Freunde Wein und Damassine, den feurigen jurassischen Pflaumenschnaps. Sie alle arbeiten bei der Postfiliale in Porrentruy, mit dem Zug eine Viertelstunde von Saint-Ursanne entfernt. Aber nicht im selben Team. «Wir haben uns am Kaffeeautomaten kennengelernt», sagen sie.

Im Restaurant du Jura treffen sich Nachbarn und Freunde für Fussball, Wein und Bier.
Foto: Lea Ernst

Einer von ihnen legt sein Handy auf den Tisch. Er hat das jurassische Wappen gegoogelt. Es steht für die Vergangenheit, vielleicht auch für die Zukunft. «Der rote Bischofsstab hier erinnert an früher, als die Region zum Bistum Basel gehörte», erklärt er und tippt auf die linke Hälfte des Wappens. Rechts stehen sieben Streifen für die sieben Bezirke, die den Kanton Jura hätten bilden sollen. Denn der Jura ist der jüngste Kanton der Schweiz. Der einzige, von dessen Gründung vor 43 Jahren es Originalaufnahmen gibt.

Die Regionalbahn fährt im Jura mit zahlreichen Pferdestärken.
Foto: Lea Ernst

Seit dem Wiener Kongress wünschte sich die Region Unabhängigkeit, als sie Bern zugeteilt wurde und nicht länger zum Fürstbistum Basel gehörte. 1979 erhielt sie sie. Bis heute zählen drei Bezirke dazu: Delémont (auf Deutsch Delsberg), Saignelégier und Porrentruy (Deutsch: Pruntrut). Vergangenes Jahr entschied auch das Stimmvolk im Berner Moutier, sich dem Jura anzuschliessen. Bis 2026 soll der Kantonswechsel spätestens vollzogen sein.

Ein geselliger Schneemann

«Entschuldige, meine Karotte», sagt Xavier. Er rückt die verrutschte Stoffrübe zurecht, die er sich über die Nase gestülpt hat. Eigentlich arbeitet er bei der Touristeninformation, heute steht er hinter der Bar. Für den Weihnachtsmarkt in Porrentruy hat er sich als Schneemann verkleidet.

An Xaviers Stand wärmt man sich die Hände am Schwedenfeuer, isst Toétché vom Stand nebenan, den salzigen jurassischen Sauerrahmkuchen. Über den verschneiten Dächern thront das Schloss. «Bonjour, bonjour», ruft der Schneemann den Passanten zu. Küsschen hier, Küsschen da. Alle kennen Xavier, trinken mit ihm Glühwein, kichern über das Deutschschweizer Wort «Glü-Wii». Das finden sie «mignon», herzig.

Mère Noël und der Schneemann Xavier am Weihnachtsmarkt in Porrentruy.
Foto: Lea Ernst

Während der Corona-Pandemie seien mehr Leute hergekommen, weil sie nicht ins Ausland durften, erzählt Xavier. «Aber nach wie vor haben wir nicht sonderlich viel Tourismus hier hinten.» Dabei überrasche die Region so einige. Er grinst. «Man muss aufpassen, sonst verliebt man sich noch in den Jura und bleibt.»

Toétché, der salzige Sauerrahmkuchen, gehört zu einem typisch jurassischen Apéro dazu.
Foto: Lea Ernst

Was die Menschen hier auszeichnet? Xavier überlegt. «Sie nehmen sich die Zeit, um anzuhalten und zu plaudern.» Wenn nicht am Weihnachtsmarkt, dann in der «Ampoule rouge», der Bar, in der jeder neben jeder sitzt und in der noch immer geraucht wird. «Ich denke, die Leute von hier stehen für das ein, was sie wollen», fährt Xavier mit zitternder Karotte im Gesicht fort. «Sie haben so lange für ihre Unabhängigkeit gekämpft – deshalb sagen sie, wenn ihnen etwas nicht passt.»

Der Tiktak-Star, Uhren und Anarchisten

Draussen Schneegestöber, drinnen ist die Zeit stehen geblieben. Christian Etienne (57) bringt gerade eine alte Taschenuhr wieder zum Laufen. Er sitzt an seiner Werkbank. Mit auf die Brille geklemmter Lupe sieht er aus wie ein Cyborg. Die Wände und Vitrinen ticken. In der Clinique Horlogère, der Uhrmacherei in Porrentruy, wird jede volle Stunde geschlagen.

«Du musst dir diese Zeichnung ansehen», sagt Etienne mit glänzenden Augen. Er zieht ein altes Buch aus dem Regal. Seitenweise antike Triebwerke, Rädchen. «Handgezeichnet. Wunderschön», schwärmt er. Seit 1987 restauriert er Uhren, ob alte Sammlerstücke oder moderne Armbanduhren. Er macht auch seine eigenen Uhren, im Vintage-Design und in kleiner Stückzahl. Er bietet Besuche in seinem Atelier an, lehrt an der Uhrmacherschule in Porrentruy, sammelt auf seiner Website www.cliniquehorlogere.ch alles, was er über Uhren und ihre Geschichte finden kann. Kurz: Sein Herz schlägt für das Uhrwerk.

Der Uhrmacher Christian Etienne aus Porrentruy restauriert alte und moderne Uhren.
Foto: Lea Ernst

«Früher war diese Region ein Zentrum der Uhrmacherei mit vielen grossen Manufakturen», sagt er. Denn die Zeit kommt aus dem Jura, mit filigranen Pinzetten auf Zifferblätter geschraubt. Nur wenige Betriebe haben überlebt von damals, als der Kanton, der noch keiner war, eine reiche Gegend mit Verbindungen in die ganze Welt war. Eine Zeit, in der neue Technologien wie die Zeitmessung und die Fotografie die soziale Ordnung veränderten. Diese Uhrenindustrie gibt es noch. Heute vor allem in Form von Produktionsstandorten grosser Marken.

Der Jura war einst ein Zentrum der Uhrmacherei – und eine reiche Region mit Kontakten in die ganze Welt.
Foto: Lea Ernst

Es war auch die Zeit, in der die Gemeinde Saint-Imier im Berner Jura zum Zentrum der Anarchisten wurde: mit der Fédération jurassienne, einer Bewegung, die ab 1871 die Gesellschaft umkrempeln, gegen Nationalismus sowie für Freiheit und Autonomie der Individuen kämpfen wollte. Doch nicht nur das: Im Gegensatz zum Marxismus und Sozialismus forderte sie die Abschaffung des Staats.

Die meisten Anarchisten waren Uhrmacher aus dem heutigen Kanton Jura. Saint-Imier wurde zum Treffpunkt von Anarchisten aus ganz Europa und Russland. Der Schweizer Spielfilm «Unrueh», der derzeit im Kino läuft, verschafft einen Einblick in diese unruhigen Zeiten.

Etienne hat sich inzwischen Handschuhe übergezogen und hält eine silberne Taschenuhr in den Händen. Mit einem winzigen Ölgeber schmiert er die unzähligen Steinchen. Ob ihm das nicht manchmal zu «nifelig», zu komplex sei? «Überhaupt nicht», antwortet er. «Ein Uhrwerk ist eigentlich wie ein Sandwich: Schicht für Schicht ergibt alles Sinn.»

Etienne arbeitet am liebsten mit Deutschschweizern. Pünktlich, effizient – halt wie ein Uhrwerk.
Foto: Lea Ernst
In seinem Atelier schraubt und ölt Etienne in Kleinformat.
Foto: Lea Ernst

Von überall in der Welt schicken ihm die Menschen ihre Uhren zu, er restauriert sie. Am liebsten arbeitet er mit Deutschschweizern zusammen. «Sie sind pünktlicher und effizienter.» Wie ein Uhrwerk. Doch er schätzt auch die jurassische Mentalität. Offener, neugieriger, sozialer, diskussionsfreudiger.

Autorennen und Mittelalterfeste

Die Tür zum Restaurant du Jura geht wieder auf. In dicke Jacken gemummt treten die sechs Freunde in die Nacht. Auf zur nächsten Station: die Brauerei La Tonnebière. «Dort gibt es Bier vom Fuss», sagt eine von ihnen auf Deutsch. «Vom Fass!», korrigieren sie die anderen lachend, haken ihre Arme ein.

«Wir haben sehr viel Kultur im Jura, sie ist bloss weiter verteilt als in anderen Kantonen», sagt Daniel. Er ist Präsident des Rétro Circuits, einem Autorennen in der Region. Ephrem, der in Saint-Ursanne wohnt, liebt das Mittelalterfest, bei dem Tausende Ritter und Feuerspuckerinnen in das Städtchen strömen. Bei ihm ist es 30 Jahre her, seit er sich in den Jura verliebt hat: «Je suis tombé amoureux.» Ob vor Kälte oder Rührung, in seinen Augen glitzert es.

Der Pflaumenschnaps Damassine und Absinth gehören zu den Schätzen des Juras.
Foto: Lea Ernst

Als eigenwillig beschrieb die Nachbarin aus dem Holzlädeli die Menschen von hier. Die Schreinerin wohnt auf einem Hof oberhalb von Saint-Ursanne. Dort, wo man noch seine Ruhe habe. Widerstandsfähigkeit sei das Wort, das ihr in den Sinn komme. Sie sagt: «Aus uns werden nie gute Städter.»

Die Jungen zieht es fort

Heute gehört der Kanton Jura zu den wirtschaftlich schwächsten Gegenden im Land. Der Kanton, in dem es keine einzige Verkehrsampel, dafür unzählige Kreisel mit Pferdestatuen gibt. Weil er keine grösseren Städte hat, gehen viele junge Leute weg, um zu studieren.

So auch Yolane Rais (27). Sie sitzt in ihrem Atelier in Crissier VD vor einem Stapel Fotografien. Ein verschwommener Körper über grünem Nebelsee. Ein Gewirr aus Ästen, das Spinnweben gleich feucht schimmert. Menschliche Umrisse vor feuerrotem Horizont. Bilder, die die Grenze zwischen Realität und Fantasie verzerren.

Sie macht Fotos, Videos und Kunstinstallationen: Yolane Rais ist im Jura aufgewachsen.
Foto: Lea Ernst

Rais macht Kunstinstallationen, Videos und hat Fotografie an der Hochschule für Kunst und Design in Lausanne studiert. Aufgewachsen ist sie im jurassischen Glovelier. «Das hat mich stark geprägt», sagt sie, die den grössten Teil ihrer Kindheit im Freien und im Wald verbracht hat. «Für meine Kunst verwende ich Elemente aus der Natur.» Zum Beispiel eine grosse Wurzel, die sie gefunden hat. Heute ist sie Teil einer Installation, die derzeit in Freiburg ausgestellt wird. «Die Balance zwischen Stadt und Natur ist für mich nach wie vor sehr wichtig», sagt sie, die in Lausanne wohnt.

Aus dem Kanton ihrer Kindheit hat Rais die Verbundenheit mit der Natur sowie die Lebensfreude mitgenommen.
Foto: Lea Ernst

Bei ihrer Familie sei immer jemand ein und aus gegangen. Rais ist es sich gewohnt, in Gesellschaft zu sein, teilt auch heute ihr Atelier mit zwei anderen Kunstschaffenden. «Ich könnte es mir nie vorstellen, allein zu wohnen oder zu Hause zu arbeiten.» Für Rais sind die Leute im Jura «Bonvivants». Genussmenschen, die die schönen Seiten des Lebens zu feiern wissen. «Eine wertvolle Qualität, die ich definitiv nach Lausanne mitgenommen habe.»

Auf die Freundschaft

Bis zur Decke reichen die stählernen Braukessel. Der Bartisch der sechs Freunde ist mit Käse- und Wurstplättchen bedeckt. «Das ist mein Cousin», sagt eine der Frauen und zeigt auf die Salamischeiben. Meint damit, dass ihr Cousin der zuständige Metzger ist. Aber zu spät: «Dein Cousin schmeckt wirklich vorzüglich!», kommt es prompt vom Sitznachbarn. Alle lachen.

In der Brauerei Tonnebièrre in Saint-Ursanne stossen die sechs Freunde auf ihre Freundschaft an.
Foto: Lea Ernst

Einer von ihnen hat zwei Jahre lang in Zürich gearbeitet. «Ich war beeindruckt vom Stadtleben», erinnert sich der Mann mit der Brille. «Aber weisst du, was für mich typisch Jura ist?» Er lässt seinen Blick durch die Brauerei schweifen. «Dass hier niemand einen Abend lang allein am Tisch sitzen bleibt.» Die Gruppe erhebt die Gläser und stösst an. Auf das feine Essen, das gute Bier. Aber hauptsächlich auf diesen Abend. Auf die Freundschaft.

Geheimtipps im Jura
  • Café du Soleil: Kulturzentrum mit Konzerten, Restaurant und Hotel in Saignelégier.
  • Lac Vert d’Undervelier: Opalgrüner See bei der Gemeinde Undervelier.
  • Fondation pour le Cheval: Ein Altersheim für Pferde, Ponys und Esel in Le Roselet.
  • Jurassica Jardin Botanique: Malerischer botanischer Garten aus dem Jahr 1799 in Porrentruy.
  • Grottes de Réclère: Die riesigen Tropfsteinhöhlen in der Nähe der französischen Grenze in Réclère.
  • Fresh & Qreen: Urbanes Farming mit Microgreens in Porrentruy.
  • Café du Soleil: Kulturzentrum mit Konzerten, Restaurant und Hotel in Saignelégier.
  • Lac Vert d’Undervelier: Opalgrüner See bei der Gemeinde Undervelier.
  • Fondation pour le Cheval: Ein Altersheim für Pferde, Ponys und Esel in Le Roselet.
  • Jurassica Jardin Botanique: Malerischer botanischer Garten aus dem Jahr 1799 in Porrentruy.
  • Grottes de Réclère: Die riesigen Tropfsteinhöhlen in der Nähe der französischen Grenze in Réclère.
  • Fresh & Qreen: Urbanes Farming mit Microgreens in Porrentruy.
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