Er rettet Leben, erforscht die Arktis und steht auf Theaterbühnen von hier bis New York. Er ist Dozent für Krisenmanagement an der Zürcher Hochschule für Wirtschaft, Kirchgemeindepräsident und Kinderbuchautor. Und jetzt will Stephan Schärli (54) auch noch in den Nationalrat.
Der Luzerner Tausendsassa soll für die Mitte-Partei den Sitz der abtretenden Ida Glanzmann (64) für das Amt Willisau LU retten. Seine Chancen sind angesichts der starken Konkurrenz überschaubar – doch Schärli ist nicht zum ersten Mal für eine Überraschung gut.
Bestes Ergebnis für den Kantonsrat
Auch zum Sitz in den Luzerner Kantonsrat kam er 2019 wie die Jungfrau zum Kind: «Man hatte mich gefragt, aber ich hab keinen Wahlkampf gemacht», erzählt er lachend. «Umso grösser meine Überraschung, als es am Wahlabend hiess, ich hätte es geschafft.» Vier Jahre später, im April 2023, wird Schärli gar das beste Ergebnis im Wahlkreis Willisau einfahren.
Mehr zu den Wahlen 2023
Der Bauernhof, auf dem Blick den Nationalratskandidaten besucht, mag so gar nicht zum hibbeligen Weltbürger passen. Man wähnt sich am Menzberg im Napfgebiet am Ende der Welt. Beschaulich, ruhig, fast mystisch ist die Stimmung zwischen diesen grünen Hügeln.
Hier ist der Bauernsohn aufgewachsen, hier lebt er noch immer. Bei aller Weltgewandtheit ist hier sein Ruhepol. Wobei Ruhe nicht Schärlis Sache ist. Arbeiten, Feierabendbier und Netflix, das kann er nicht. 08/15 zu leben, gehe für ihn genau einen Monat lang gut, sagt er, er habe das probiert. «Länger halte ich das nicht aus.»
Er führte ein wildes Leben ohne Flugscham
Man merkt es seinem Lebenslauf an: Nach einem landwirtschaftlichen Lehrjahr lässt sich Schärli zum Rettungssanitäter ausbilden. Zwölf Jahre arbeitet er auf dem Rettungswagen. Seit 2009 leitet er die Notfallpflege des Kantonsspitals Luzern am Standort Wolhusen.
Aber eben nicht nur. Irgendwann dazwischen, von 1996 bis 1998, belegt er Kurse an der berühmten Lee-Strasberg-Schauspielschule in New York. «Ich wollte immer Schauspieler werden, weil man da alles sein kann.» Alles sein wollen, das liegt in Schärlis Natur.
Er lebt ein wildes Leben: Eine Zeit lang nimmt er jeden Freitag den letzten Flieger nach New York. Er besucht die Schauspielkurse, spielt kleinere Rollen am Broadway, läuft Modenschauen für Tom Ford und Vivienne Westwood. «Schön bist du nicht», soll die Grande Dame der britischen High Fashion ihm gesagt haben. «Aber interessant.»
Luzern statt Broadway
Am Sonntag geht es dann wieder nach Zürich, um am Montag pünktlich den Dienst im Spital anzutreten. «Die Swissair-Crew duzte mich schon», sagt er lachend. Heute, gibt er zu, könnte man sowas nicht mehr machen. Doch Flugscham sei vor 25 Jahren kein Thema gewesen.
Die Globetrotter-Zeiten liegen hinter Schärli. Auf der Bühne steht er heute seltener und eher im Luzernischen als am Broadway. Er hat ja jetzt die Politik. Im Kantonsrat sitzt er in der wichtigen Kommission für Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit. Ratskollegen beschreiben ihn als umgänglich und solid, aber nicht immer knietief in den Dossiers. Ihm fehle der Schnauf, er denke zu wenig strategisch.
Manche sagen darum, Bundesbern sei eine Nummer zu gross für Schärli. Sowieso sind die Luzerner Nationalratssitze in diesem Jahr hart umkämpft, Lob für den politischen Gegner – und der kann auch in der eigenen Partei sitzen – sucht man da vergeblich. «Mehrheiten beschaffen könnte Schärli, wenn er will», sagt ein Bundeshaus-Insider aber.
Serieller Monogamist
Und was sagt Schärli? «Was ich mache, mache ich richtig. Jetzt ist jetzt, nachher ist nachher.» Er sei so etwas wie ein serieller Monogamist: Er mache viele Dinge, aber nacheinander, nicht gleichzeitig. Und er hänge sich sehr wohl rein.
Der Luzerner kämpft für eine bessere und günstigere Gesundheitsversorgung. «Mit Smart Medicine – schlauen Systemen, die Technologien nutzen – ist das möglich.» Er will, dass der Bund bei der Spitalplanung mehr mitredet. «Weil die Kantone gezeigt haben, dass sie das nicht gut können.» Er will, dass Ausländer nach zehn Jahren das Stimmrecht auf Gemeindeebene erhalten. Und gleichzeitig, dass die Schweiz Asylverfahren ausserhalb Europas durchführt. Er befürwortet ein Verbot von Einwegplastik und will gleichzeitig die Autobahnen ausbauen.
Mit dieser wilden Mischung – «so bin ich, aber so sind doch eigentlich alle Menschen, wenn sie ehrlich sind» – will er nun nach Bern. Und dort alles geben. Ausser, wenn es wieder in die Arktis geht. 2015 reiste er erstmals in den hohen Norden als medizinischer Betreuer einer geologischen Expedition. Seitdem ist er immer wieder dort. Als Notfallpfleger für Wissenschaftler oder mit Managern, denen er in eisiger Kälte zeigt, was Krisenmanagement ist. Eigentlich keine schlechte Voraussetzung für Bundesbern.