Reicht das, um den zweiten Lockdown abzuwenden?
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«Ausgewogenes Konzept»:So beurteilt Epidemiologe Cerny die Massnahmen

So setzte Berset seinen Plan trotz Sperrfeuer von rechts und Bedenken von Amherd durch
Letzte Chance für die Schweiz

Gesundheitsminister Alain Berset wollte private Versammlungen auf zehn Personen begrenzen und die Maskenpflicht auf Siedlungsgebiete ausweiten. Seine Vorschläge haben im Bundesrat für heftige Diskussionen gesorgt. Im Grundsatz aber setzte sich der SP-Bundesrat durch.
Publiziert: 28.10.2020 um 22:44 Uhr
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Aktualisiert: 29.10.2020 um 08:46 Uhr
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Ab Donnerstag gelten strenge Regeln: «Die Situation ist jetzt für niemanden leicht», ist sich Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bewusst.
Foto: Keystone
Daniel Ballmer und Ruedi Studer

Es sind drastische Massnahmen, die ab Donnerstag in der ganzen Schweiz gelten. Doch SP-Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60) versuchte mit eindringlichen, aber zugleich bedachten Worten, der Bevölkerung das neue Notpaket schmackhaft zu machen.

«Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren», betonte sie und appellierte an das Wir-Gefühl im Land. «Was uns zusammenhält, ist viel stärker als die Unterschiede.» Einfühlsam schob sie nach: «Die Situation ist jetzt für niemanden leicht. Durch diesen Herbst kommen wir aber nur gemeinsam.»

Flankiert wurde die Bundespräsidentin von SP-Gesundheitsminister Alain Berset (48) und SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin (60). In ihrem Auftreten war die Botschaft klar: Der Bundesrat tritt als Einheit auf. Kleinliche Streitereien kann er sich jetzt nicht leisten. «Gesundheit und Wirtschaft stehen nicht in Widerspruch», betonte Parmelin. Und nickte auffällig zustimmend während der Voten der SP-Gspänli.

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Internen Knatsch überdeckt

Doch damit wurde der interne Knatsch nur überdeckt. Die Bundesratssitzung dauerte ungewöhnlich lange. Schon im Vorfeld war der Ton gehässig. Berset hatte eine ganze Reihe an Mitberichten erhalten. Insbesondere Parmelin und SVP-Finanzminister Ueli Maurer (69) hätten Bersets Vorschläge zerzaust, heisst es aus Bundesbern. Ihre Mitberichte seien «ungewohnt scharf» formuliert gewesen – unter dem Strich hätten die SVP-Bundesräte ihrem Kollegen «lausige Arbeit» vorgeworfen.

Mit ihrer massiven Kritik drangen sie aber nicht überall durch. Denn CVP-Bundesrätin Viola Amherd (58) setzte sich für noch strengere Massnahmen ein. Und die ausschlaggebenden Freisinnigen Karin Keller-Sutter (56) und Ignazio Cassis (59) stützten den relativ harten Kurs Bersets ebenfalls. Ihr Ziel: einen zweiten Lockdown mit Betriebsschliessungen und damit noch schlimmeren wirtschaftlichen Folgen verhindern. Cassis verzichtete sogar bewusst auf einen Mitbericht, weil er das Hickhack im Bundesrat nicht befeuern wollte.

Im Kern hat sich Berset mit seinen Vorschlägen durchgesetzt. Das sind die Entscheide, die ab Donnerstag gelten:

Maskenpflicht im Freien: Überall dort, wo der Abstand nicht eingehalten werden kann, gilt Maskenpflicht – auch draussen. Gerade in Aussenbereichen von Läden, Veranstaltungsorten, Restaurants oder Märkten, ebenso in belebten Fussgängerbereichen oder Dorfzentren. Widerstand gegen eine zu breit gefasste Maskenpflicht draussen kam aus den SVP-Departementen. Der pragmatische Mittelweg setzte sich durch.

50er-Grenze für Veranstaltungen: Öffentliche Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen sind verboten – mit Ausnahme von Parlaments- und Gemeindeversammlungen oder Demos. In diesem Punkt flogen die Fetzen. Berset wollte runter auf maximal 15 Personen, was einem Veranstaltungsverbot gleichgekommen wäre. Auch Amherd zog hier mit. Die SVP-Bundesräte wollten den Kantonen mehr Spielraum lassen und vor allem die Schutzkonzepte bei Veranstaltungen stärker gewichten. «Ein Fussballmatch mit 1000 Zuschauern ist in einem Stadion weniger heikel, als wenn man zuhause mit 20 Kollegen das Spiel schaut», so das Argument. Die Rechtsbürgerlichen hätten den Ernst der Lage nicht erkannt, kontert die Gegenseite.

10er-Grenze für Privatpartys: An Festli im Familien- und Freundeskreis sind maximal noch zehn Personen erlaubt. Hier hat Berset seinen Vorschlag sogar erfolgreich verschärft.

Sperrstunde ab 23 Uhr: In Restaurants und Bars dürfen nur vier Personen an einem Tisch sitzen, es gilt Sperrstunde zwischen 23 und 6 Uhr. Berset hatte 22 Uhr beantragt. Die Kantone hingegen hatten grossmehrheitlich für 23 Uhr plädiert. Eine Stunde mehr ändert für die Gäste wenig – für die Wirte wirtschaftlich hingegen schon, so das Argument der Bürgerlichen.

Clubschliessungen: Discos und Tanzlokale müssen schliessen. Tanzveranstaltungen sind verboten.

Freizeit-Beschränkungen: Sportliche oder kulturelle Freizeitaktivitäten mit mehr als 15 Personen sind verboten. Kontaktsportarten wie Fussball oder Eishockey sind im Amateurbereich untersagt, Chorproben ebenso. Ausgenommen sind Kinder unter 16. Professionelle Trainings und Wettkämpfe dürfen noch durchgeführt werden.

Fernunterricht: Hochschulen müssen auf Fernunterricht wechseln, in den obligatorischen Schulen und Sekundarstufe II bleibt Präsenzunterricht erlaubt – die Regelung gilt ab 2. November.

Homeoffice-Empfehlung: Es bleibt bei einer dringlichen Empfehlung für Homeoffice, wenn von zu Hause aus gearbeitet werden kann. Berset hatte eine stärkere Verpflichtung zum Homeoffice beantragt, drang damit aber nicht durch. Umgekehrt hatte Aussenminister Cassis gerne empfohlen gehabt, dass die Bevölkerung auf nicht-dringliche Reisen verzichte. Das wollte Berset aber nicht.

Unbefristet in Kraft

Offen bleibt, wie lange die Massnahmen in Kraft bleiben. Der Bundesrat hat bewusst auf ein Enddatum verzichtet, um flexibel zu bleiben. «Sie gelten so lange wie nötig», sagte Berset. Je nach Entwicklung der Pandemie würden sie wieder angepasst.

Denn eines ist klar: Wenn die Fallzahlen nicht sehr rasch gesenkt werden können, dann wird sich der Bundesrat gezwungen sehen, nochmals weitere Massnahmen zu ergreifen. Dann droht definitiv ein Lockdown wie schon im Frühling – mit schwerwiegenden Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft. Und das wollen alle vermeiden.

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