Will Islam Alijaj (37) im Zürcher Gemeinderat etwas sagen, ist der SP-Politiker auf Hilfe angewiesen. Eine Assistentin begleitet ihn als Rednerpult und übernimmt für ihn das Sprechen. Denn aufgrund der Zerebralparese, die der SP-Nationalratskandidat hat, fällt ihm neben dem Gehen auch das Reden schwer.
Im Wahlkampf holt sich Alijaj nun virtuelle Unterstützung. Er und sein Team haben einen Avatar entwickelt, der für ihn spricht. Dieser sieht aus wie Alijaj und hat eine ähnliche Stimme. Doch spricht er flüssiger und dadurch verständlicher.
Er tippt, sein Avatar spricht
Alijaj hat bereits 2019 für den Nationalrat kandidiert – vergebens. Jetzt versucht er es ein zweites Mal. «Mit meiner Sprechbehinderung ist es unglaublich schwierig, Inhalte zu transportieren», sagt der SP-Politiker. Kurze, persönliche Videos würden gut funktionieren. «Aber sobald es etwas länger und inhaltlich wird, schalten die Leute ab.» Eine schwierige Ausgangslage für einen Politiker.
Als jemand aus seinem Wahlkampfteam die Idee hatte, mithilfe der künstlichen Intelligenz (KI) einen Avatar zu schaffen, sei er einerseits sofort begeistert, andererseits skeptisch gewesen. Schliesslich machte er die Erfahrung, dass gängige Spracherkennungssoftwares wie Apples Siri ihn nicht verstehen.
Doch die Skepsis verflog rasch. Es habe nur ein einziges Videoshooting gebraucht, um ihn und seine Stimme aufzuzeichnen, erzählt Alijaj. Dieses sei dann mittels generativer KI in einen Avatar mit synthetischer Stimme umgewandelt worden. Der Politiker kann nun einfach tippen, was er sagen will – und der Avatar verwandelt den Text in Rede. Fünf Videos sind so entstanden, in denen Alijaj seine Wahlziele vorstellt. Noch spricht der Avatar Hochdeutsch. Aber auch eine schweizerdeutsche Variante sei technisch möglich, so der Sozialdemokrat.
Digitalisierung bringt nicht nur Erleichterung
Für Alijaj ist das Ganze nicht bloss eine witzige Spielerei. Er sieht darin vielmehr eine Riesenchance für Menschen mit Behinderung wie ihn. «Mein grosser Traum wäre eine technische Lösung, die mich simultan dolmetschen kann und mich unabhängig von meiner Sprechassistenz macht.» Das würde Alijaj nicht nur Unabhängigkeit bringen, sondern auch enorm finanziell entlasten. Mit gut 170'000 Franken verfügt der SP-ler über eines der höchsten Wahlkampfbudgets im Kanton. Ein grosser Teil ging für die Sprachassistenz drauf, sagt Alijaj.
Doch der Zürcher mit kosovarischen Wurzeln will die Digitalisierung auch nicht verherrlichen. In den vergangenen Jahrzehnten habe man erleben müssen, dass viele Entwicklungen für Menschen mit Behinderungen eigentlich noch mehr Hürden produzieren würden, gibt er zu bedenken. Deshalb sei für ihn klar, dass er sich als Nationalrat dafür einsetzen würde, «dass wir endlich auch die digitale Barrierefreiheit verbessern».