Direkt vor einem Bankomaten bricht ein 15-Jähriger zusammen, er setzt sich auf, krümmt sich und bleibt schliesslich auf dem Boden liegen. Ein 48-Jähriger bemerkt den Zusammenbruch auf dem Weg vom Bankomaten zurück zu seinem Auto, hält kurz an, spricht den Jugendlichen an – und fährt dann weg. Später stellt sich heraus: Der 15-Jährige hat einen Schlaganfall erlitten.
Die Staatsanwaltschaft klagt den Mann wegen Unterlassung der Nothilfe an. Denn: Wer auf der Strasse eine Person am Boden liegen sieht und annehmen muss, dass ihr Leben bedroht ist, muss helfen – sonst droht eine Strafe.
Anders bei einer Vergewaltigung: Solange das Opfer nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, kann ein unbeteiligter Dritter tatenlos weglaufen – eine Strafe droht ihm nicht. Das zeigt ein Urteil des Bundesgerichts vom September.
Physische oder psychische Verletzungen reichen nicht
In dem Fall hatte eine Frau mit einem Mann einvernehmlichen Sex. Dann ruft dieser einen Kollegen ins Zimmer. Die Frau solle nun auch mit ihm schlafen. Sie will nicht. Der Mann aber lässt sie nackt und alleine mit dem Kollegen zurück und geht weg. Es kommt zur Vergewaltigung.
Der Angeklagte musste annehmen, dass die Frau in grosser Not war, dennoch hat er nichts getan. Von der unterlassenen Nothilfe aber wird er freigesprochen, weil es für die Frau nicht ums nackte Überleben ging. Physische oder psychische Verletzungen reichen nicht.
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren
Das soll sich dringend ändern. Gemeinsam mit 19 Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus fast allen Fraktionen fordert SP-Nationalrätin Tamara Funiciello (31) mit einer parlamentarischen Initiative eine Anpassung des Strafrechts. Ihr Ziel: Die Gesetzeslücke soll geschlossen und unterlassene Nothilfe künftig konsequent bestraft werden.
Und Funiciello hat ganz konkrete Vorstellungen. Klar ist: Wer einem Menschen nicht hilft, für den eine unmittelbare Lebensgefahr droht, der soll künftig mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft werden. Neu gelten soll das aber auch bei einer erkennbaren unmittelbaren Gefahr der schweren Verletzung seiner physischen oder sexuellen Integrität – wenn ein Eingreifen unter den Umständen zumutbar war. Und: Auch wer andere davon abhält, Nothilfe zu leisten oder sie dabei behindert, soll künftig bestraft werden.
Funiciello geht es nicht um den Einzelfall, sondern um das grundsätzliche Problem. Dennoch: «Das Verhalten des freigesprochenen Mannes ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern sollte auch strafrechtlich relevant sein, wenn wir mitmenschliche Solidarität ernst nehmen», findet sie. «Dies entspricht auch dem Wandel, der in der Gesellschaft stattgefunden hat, und dem Rechtsempfinden der Gesellschaft.» (dba)