Als Michael Ambühl (69) zum ersten Mal mit der EU verhandelte, sass Aussenminister Ignazio Cassis (60) noch nicht einmal im Dorfparlament von Collina D'Oro TI. Der ehemalige Staatssekretär kennt die Brüsseler Mechanik seit Jahren. Mitte der 90er-Jahre war er Teil der Schweizer Delegation, die die Bilateralen I aushandelte. Als Chefunterhändler führte er einige Jahre später die Bilateralen II erfolgreich zum Abschluss.
Nun präsentiert Ambühl – ein Gegner des gescheiterten Rahmenabkommens – gemeinsam mit der ETH-Wissenschaftlerin Daniela Scherer (33) einen Plan, wie die zerrüttete Beziehung zur EU mit Bilateralen III wieder verbessert werden kann.
Wer sich zuerst bewegt ...
Der Bilaterale-III-Plan sieht drei Stufen vor: In einem ersten Schritt empfehlen die Autoren der Schweiz, von sich aus Massnahmen zu ergreifen, die das gegenseitige Vertrauen stärken. Das könnten ein engerer Austausch mit Brüssel und den europäischen Hauptstädten sein wie ihn Aussenminister Cassis (60) jüngst aufgleiste. Oder auch die Normalisierung der Personenfreizügigkeit mit Kroatien, deren Bürger in der Schweiz noch nicht voll von der Freizügigkeit profitieren, sowie die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde.
Die Schweiz hält die rund 1,3 Milliarden Franken Kohäsionsbeitrag seit 2019 zurück. Der Bundesrat möchte nun, dass National- und Ständerat das Geld in der Herbsession freigeben. Diese startet am 13. September. Laut Radio SRF will sich die Ständeratsleitung allerdings nicht drängen lassen. Sie verschiebt die Beratung auf den Winter. Michael Ambühl und Daniela Scherer sähen in einer raschen Freigabe, «ein erstes positives Signal nach Brüssel.».
Was will die Schweiz?
In einem zweiten Schritt empfehlen die Autoren dem Bundesrat, eine europapolitische Standortbestimmung vorzunehmen und sich klar zu werden, was er eigentlich will. In Form einer Erklärung oder eines Planungsbeschlusses soll die Regierung das Ergebnis dem Parlament vorlegen. Damit soll die Glaubwürdigkeit des Bundesrates gegenüber Brüssel gestärkt werden.
Keine «Super-Guillotine»
Die dritte Stufe bildet das Filetstück des Europa-Plans: Sie sieht vor, dass der Bundesrat erneut Verhandlungen mit Brüssel angeht und letztlich ein umfassendes Verhandlungspaket – die Bilateralen III – verabschiedet.
Mit diesem neuen Bilateralen-Paket würde sich die Schweiz verpflichten, dynamisch EU-Recht zu übernehmen. Anders als beim Rahmenabkommen schlagen die Autoren aber vor, die Dynamisierung nicht in einem Spezialabkommen zu regeln, sondern die bestehenden Abkommen anzupassen.
Das hätte laut den Wissenschaftlern den Vorteil, dass keine «Super-Guillotine» geschaffen würde. Anders als beim vom Bundesrat versenkten Rahmenvertrag würden so bei einer Kündigung eines einzelnen Abkommens nicht alle damit verknüpften Abkommen dahinfallen.
Ausnahmen bei umstrittenen Punkten
Umstritten waren beim Rahmenabkommen insbesondere die drei Bereiche Lohnschutz, Übernahme der Unionsbürgerrichtline und staatliche Beihilfen. Damit die dynamische Rechtsübernahme innenpolitisch akzeptiert wäre, müsste die Schweiz, laut Ambühl und Scherer, in diesen drei Bereichen von der Übernahmepflicht entbunden werden.
Bei den Verhandlungen um das Rahmenabkommen war die EU dazu nicht bereit. Warum sollte sie ihre Meinung nun geändert haben? «Nach dem Scheitern sind wir verhandlungstechnisch in einer anderen Ausgangslage», sagt Daniela Scherer. «Mit unseren Vorschlägen gehen wir auf die Kernanliegen der EU ein, das ist mehr als was sie in der jetzigen Situation hat.»
EU-Gerichtshof ohne Rolle
Einen weiteren wichtigen Unterschied zum Rahmenabkommen skizzieren die Wissenschaftler bei der Streitbeilegung. Neu sehen sie für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) keine explizite Rolle mehr vor. Übernimmt die Schweiz neues EU-Recht nicht, könnte Brüssel Ausgleichsmassnahmen gegenüber Bern anordnen, ohne ein Gericht anzurufen. Die Schweiz allerdings könnte von einem unabhängigen Schiedsgericht prüfen lassen, ob die verhängten Massnahmen angemessen sind.
Da das Gericht nur über die Angemessenheit, nicht aber über die Auslegung von EU-Recht entscheiden würde, bliebe der EuGH aussen vor. «Aus unserer Sicht fällt damit ein in der innenpolitischen Wahrnehmung heikler Punkt weg», sind sich Ambühl und Scherer sicher.
Zückerchen für die EU
Um der EU die Aufnahme von neuen Verhandlungen und das Verhandlungspaket attraktiver zu machen, schlagen die Autoren vor, die Schweiz solle den Kohäsionsbeitrag von sich aus erhöhen – beispielsweise auf eine einstellige Zahl im mittleren Milliardenbereich, also etwa 5 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Norwegen zahlt gegen 3 Milliarden, obwohl es weniger Einwohner hat als die Schweiz und ein Bruttoinlandprodukt (BIP) aufweist, das keine 60 Prozent des hiesigen BIP beträgt. Mit dem Vorschlag der Autoren würde sich die Schweiz in der Grössenordnung von Norwegen an der Kohäsion beteiligen.
Eine dynamische Rechtsübernahme, die Erhöhung des Kohäsionsbeitrages, keine «Super-Guillotine» und kein Miteinbezug des EuGH – will die Schweiz ihre Vorschläge durchbringen, müsse sie zügig aktiv werden, schreiben Michael Ambühl und Daniela Scherer. Nur dann könne sie vom Vorreiter-Vorteil profitieren. Ansonsten übernehme die EU das Zepter und bestimme die wesentlichen Punkte des weiteren Vorgehens.