Auf einen Blick
- SP-Nationalrätin Estelle Revaz ist auch Profi-Cellistin mit internationaler Karriere
- Während der Session übt sie täglich um 4.30 Uhr im Bundeshaus, bevor sie politische Akten bearbeitet
- Hat 6 Alben veröffentlicht und wird 2025 in Europa, Asien und Südamerika spielen
Wer morgens um 4.30 Uhr durchs Bundeshaus schleicht, hört Cello-Töne. Während der Session reserviert Estelle Revaz (35) in den frühen Morgenstunden das Zimmer 5. Revaz ist nicht nur SP-Nationalrätin, sondern auch Profi-Cellistin. Jeden Morgen übt sie mehrere Stunden, bevor sie sich in der oberen Etage über Akten beugt.
«Für mich war immer klar, dass ich Berufsmusikerin bleibe und meine internationale Karriere fortsetzen möchte.» Nun hat Revaz gut ein Jahr, nachdem sie überraschend ins Schweizer Parlament eingezogen ist, ein neues Album auf den Markt gebracht. Der Titel: «Caprices for Violoncello Solo by Dall’Abaco». Im nächsten Jahr wird sie in der Schweiz, Europa, Asien und Südamerika spielen.
Die Reinigungskräfte hören zu
Zumindest zeitlich gehen Politik und Musik gut aneinander vorbei, sagt Revaz. «Wir tagen von Montag bis Donnerstag. Das passt gut, weil die Konzerte eher von Freitag bis Sonntag stattfinden. Die grossen Tourneen spiele ich zwischen den Sessionen.» Aber proben muss sie auch, während das Parlament tagt.
Da bleibt dann noch der frühe Morgen, mit Reinigungskräften als heimliche Zuhörer oder Ratskollegen, die mal kurz den Kopf durch die Tür stecken. Trotzdem: Der Zeitplan ist straff. Am Freitagabend ein Auftritt in Fribourg, am Sonntag einer in Köln (D). Am Montagnachmittag entschied sie im Bundeshaus über das Gesetz zur Nationalbibliothek.
Ihre Musik sei nicht politisch, sagt Revaz. «Die Musik kommt aus dem Herzen und geht direkt ins Herz. In der Politik geht es um weniger emotionale Dossiers. Und die Diskussionen erfordern weniger Präzision als die Partituren in der Musik.» Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten: Es gehe trotz allem darum, Kompromisse zu finden, den Rhythmus der anderen zu erkennen und Harmonie zu finden. «Ich politisiere im Bundeshaus, als würde ich auf der Bühne Kammermusik spielen.»
Die «Gauklerin»
Estelle Revaz wurde im Kanton Wallis geboren. Mit zehn Jahren zog sie nach Paris, wo sie ausgebildet wurde. «Musik und Literatur waren meine Welt.» Schon früh gewann die «Gauklerin» – wie ihre Biografie betitelt ist – Preise, ging auf die Tournee und hat mittlerweile sechs Alben herausgebracht. Ein Höhenflug. Bis zur Pandemie. Bis zum Stillstand.
Abgesagte Auftritte, fehlende Gagen: Revaz spürte die Folgen am eigenen Leib und beschloss, politisch zu kämpfen. Sie setzte sich dafür ein, dass Künstler vom Bund stärker unterstützt werden. Dafür nahm sie persönlich Kontakt zu Politikern wie Bundesrat Alain Berset (52) auf. Mit Erfolg. Das Covid-Gesetz wurde geändert. Die Künstler kamen zu ihrem Geld.
Kurz darauf klopften die FDP und die Mitte an und fragten, ob sie Mitglied werden wolle. Doch Revaz entschied sich für die SP. «Kultur, Gleichberechtigung und Armut sind die Themen, die mir am meisten bedeuten.» Prompt wurde sie in den Nationalrat gewählt. «Mir wurde gesagt, dass dies meiner Karriere schadet», erinnert sie sich. Doch ihr Herz sagte etwas anders. «Nach einem Jahr bin ich erleichtert, dass ich es geschafft habe und zeigen konnte, dass eine Doppelkarriere auf höchster Ebene möglich ist.»
Bundesrätin will sie nicht werden
Auch im Nationalrat setzt sie sich für die Künstler ein. Revaz möchte, dass diese mehr sozialen Schutz erhalten. «Viele Menschen konsumieren einfach Kultur, haben aber keine Ahnung, wie viele Künstler von der Armut bedroht sind.» Ein erster Schritt wurde im vergangenen Frühjahr beschlossen. Ganz generell engagiert sie sich im Kampf gegen die Armut und setzte sie durch, dass die Schweiz eine nationale Strategie zur Bekämpfung von Armut bekommt.
Hilfreich sind dabei überparteiliche Kontakte, wie sie auch über die Musik entstehen können. Das Parlament verfügt selbst über eine eigene Band. «Ich wurde schon gefragt, ob ich mal mitspielen will, leider hat die Zeit noch nicht gereicht.» Ausgeschlossen sei das aber nicht.
Man spürt: Revaz lebt für die Musik. Auch die Weihnachtszeit wird sie mit Proben verbringen. Mitte Januar steht das nächste Konzert an. Aber auch die Politik soll nicht so schnell enden, eine weitere Kandidatur in drei Jahren sei gut möglich. Nur eine Bundesrätin Revaz wird es nicht geben. «Dann müsste ich ja mit der Musik aufhören! Das mache ich nicht.»