Vor zehn Jahren wurde die Schweiz zur Vorreiterin. Als erstes europäisches Land verhandelte der Bund ein bilaterales Freihandelsabkommen mit China. Es ist eine Rolle, die sich weiterhin nicht so ganz mit dem humanitären Geist der Eidgenossenschaft vertragen will. So sehen es jedenfalls Kritikerinnen und Kritiker mit Blick auf die Menschenrechtslage in der asiatischen Volksrepublik.
Nun sollen die Handelsbeziehungen ausgebaut werden: Am 23. September wird das Wirtschaftsdepartement von SVP-Bundesrat Guy Parmelin (64) die Verhandlungen lancieren. Anlass, um die prekäre Situation der uigurischen und tibetischen Völker im Reich der Mitte zu thematisieren? Höchstens unverbindlich. «Wir reden auch über Zwangsarbeit», sagte Parmelin noch im Juli gegenüber der «NZZ», als der Wirtschaftsminister in Peking den chinesischen Handelsminister Wang Wentao (60) traf.
Keine verbindlichen Menschenrechtsregeln
Sowohl Parlament als auch der Bundesrat entschieden sich jedoch dagegen, die Zwangsarbeit in Umerziehungslagern oder die Internierung tibetischer Kinder verbindlich in den Handelspakt zu tragen. Dies, obwohl der Bund 2021 in seiner in diesem Jahr auslaufenden China-Strategie selbst festsetzte, dass Menschenrechte in den bilateralen Beziehungen mit China konsequent thematisiert werden sollen.
Bei der uigurischen und tibetischen Diaspora in der Schweiz stösst der Kurs auf Unverständnis. «Es ist allen bewusst, wie die Menschenrechtssituation in Tibet und in Ostturkestan ist. Ein Abkommen, das dies nicht thematisiert, widerspricht dem humanitären Verständnis der Schweiz», sagt Karma Gahler (24), Co-Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend in Europa. Dieser reicht am Mittwoch zusammen mit drei weiteren tibetischen Gemeinschaften, dem Uigurischen Verein Schweiz sowie den beiden Nichtregierungs-Organisationen Campax und der Gesellschaft für bedrohte Völker eine Petition mit über 14’000 Unterschriften ein, die vom Bundesrat eine «rote Linie» bei den Verhandlungen mit China fordert.
In der Schweiz leben über 7000 Tibeterinnen und Tibeter – es ist eine der grössten Gemeinschaften in Europa. Demgegenüber stehen nur einige Hundert Uigurinnen und Uiguren, die die chinesische Provinz Xinjiang verlassen konnten. Eine davon ist Rizwana Ilham (35). Die Präsidentin des Uigurischen Vereins Schweiz kam mit zwölf Jahren in die Schweiz. Etwas, das heute nicht mehr möglich sei, sagt Ilham. Denn die chinesischen Repressionen gegen das uigurische Volk – Zwangssterilisierung, Internierungen, Überwachung – hätten sich in den letzten Jahren stark verschlimmert.
Zwangsarbeit soll nicht ausgeblendet werden
Auch das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte konstatierte in einem 2022 veröffentlichten Bericht schwere Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Xinjiang. Die Volksrepublik China bestreitet die Vorwürfe vehement.
Mehr zu den Handelsbeziehungen der Schweiz
Ilham hat seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie in China. «Ich weiss nicht, wie es ihnen geht. Ich weiss aber, dass jeder mal im Lager war.» Den Gedanken, ihre Verwandten wieder ins Gefängnis zu bringen, wenn sie sich hier in der Schweiz öffentlich äussert, treibt Ilham um. «Aber wenn ich nichts mache, fühle ich mich innerlich schlecht. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen.»
Der von der Schweiz angestrebte «Wandel durch Handel» passiere nicht, wenn Zwangsarbeit und Ausbeutung ausgeblendet würden. «Wenn in der Bundesverfassung steht, dass sich die Schweiz für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt, und sie dann von dem profitiert, stimmt etwas nicht.»
Schweiz lässt sich nicht von Sanktionen beirren
Der spezielle Weg der Schweiz zeigt sich besonders mit Blick auf das Ausland: In Europa haben nur Island und Serbien ebenfalls einen bilateralen Handelsvertrag mit China. Die EU verhängte bereits 2021 Sanktionen gegen die Volksrepublik. Und auch die USA und Kanada wenden sich immer weiter von der Regierung um Staatsoberhaupt Xi Jinping (71) ab.
Es bleibt offen, wie lange die wichtigen Handelspartner in Europa und Amerika den eidgenössischen Weg goutieren. Die Schweiz lässt sich bisher nicht davon beirren. Für Tibeterinnen und Uiguren bleibt nur die Hoffnung, dass sie sich doch noch umstimmen lässt. Wenn nötig mit einem Referendum.