Seitdem Journalistin Anuschka Roshani (56) Ende vergangener Woche über massives Mobbing und Sexismus beim Magazin des «Tages-Anzeigers» geschrieben hat, geht ein Beben durch die Schweizer Medienszene. Immer mehr Fälle von sexueller Belästigung und Diskriminierung werden bekannt – manchmal namentlich, häufig anonym.
Nun meldet sich erstmals Finn Canonica (57), der von Roshani beschuldigte Ex-Chefredaktor des «Tagi-Magis» zu Wort. In einem offenen Brief an «Liebe Freund:innen und Bekannte», der Blick von seinem Anwalt zur Verfügung gestellt wurde, gesteht Canonica Fehler ein (hier PDF downloaden). Einen ähnlichen Brief hatte Canonica zuvor an einen privaten Empfängerkreis geschickt.
Hakenkreuz: Roshani habe sich nie beschwert
Die Hakenkreuz-Zeichnungen beispielsweise – Canonica kennzeichnete so in Roshanis Texten deutsche Ausdrücke, die in der Schweiz nicht verwendet werden – seien ein «Witz» unter Freunden gewesen, den er heute sehr bedauere.
Zur damaligen Zeit habe er jedoch kein Problem darin gesehen, wie er – unter Benutzung von gender-korrekter Sprache – schreibt: «Die Sprüche unter Journalist:innen sind oft derb, man nimmt sich hoch, ähnlich wie eine Sportmannschaft». Roshani habe sich nie darüber beschwert, sondern das mit Humor hingenommen.
«Diese Art von Humor», so Canonica weiter, «war zwischen uns und allen anderen Kolleginnen normal. So musste ich auch Witze über Juden anhören. Roshani wusste, dass meine Mutter eine französische Jüdin und Holocaust-Überlebende ist.»
Zum Glück, fügt Canonica an, sei es heute unmöglich, solche Witze zu machen. Die Zeiten hätten sich geändert – «und das ist eine gute Entwicklung». Aber es sei ihm damals umgekehrt auch nie in den Sinn gekommen, Sprüche von Mitarbeiterinnen wie «Ihr Männer habt immer nur eines im Kopf» als männerfeindlich zu bezeichnen.
Keine Stellungnahme zu konkreten Vorwürfen
Lese man den Text, den Roshani im «Spiegel» veröffentlicht habe, «muss der Eindruck entstehen, ich sei ihr gegenüber ein Monster gewesen». Dem will Canonica nun seine eigene Version gegenüberstellen. Zu konkreten Vorwürfen – er habe Roshani «die Ungefickte» genannt, ihr ein Verhältnis mit dem Pfarrer des Zürcher Fraumünster unterstellt und sich über den Penis ihres Mannes lustig gemacht – nimmt er nicht detailliert Stellung.
Canonica schildert jedoch, wie sehr ihn diese Angelegenheit mitgenommen habe. Er sei erstmals im August 2021 von Tamedia-Superchefredaktor Arthur Rutishauser (57) zu einem Gespräch zitiert worden, an dem auch eine Mitarbeiterin der Personalabteilung teilgenommen habe. Es sei um verschiedene Vorwürfe gegangen. Kurz zuvor hatten 78 Tamedia-Journalistinnen einen Brief an die Verlagsleitung geschickt, in dem sie eine «sexistische Arbeitskultur» im Medienkonzern anprangerten.
Canonica war mehrere Wochen krankgeschrieben
«Diese Befragung stürzte mich in eine Depression», so Canonica. Sieben Wochen später – Tamedia hatte aufgrund von Roshanis Vorwürfen eine interne Untersuchung in Gang gesetzt – habe sich Rutishauser gemeldet, um nach Canonicas Befinden zu fragen. «Ich sagte, dass mich diese anonymen Vorwürfe krank gemacht hätten. Ich könne mir nicht vorstellen, wer solche Dinge erzählt habe.» Aus dem Brief geht hervor, dass Canonica sich über mehrere Wochen krankgemeldet haben muss.
Ende Oktober soll sich Rutishauser erneut bei Canonica gemeldet haben. Mit einer guten Nachricht: Die interne Untersuchung sei abgeschlossen, «es sei mit der ganzen Redaktion gesprochen worden». Doch vorbei war die Geschichte nicht: Anfang Dezember habe sich Tamedia-Verleger Pietro Supino (57) bei ihm gemeldet. Roshani habe ihre Vorwürfe in den Verwaltungsrat des Unternehmens getragen. Deswegen «habe er keine andere Wahl» als eine externe Untersuchung in Auftrag zu geben, so Supino.
Er sieht sich durch Schlussbericht bestätigt
In diesem Rahmen habe er zu jedem Vorwurf Stellung genommen. «Mir wurden absurde Dinge vorgelesen, von denen Roshani behauptet habe, ich hätte sie gesagt. Es waren schlicht Lügen.» Das gleiche hätten auch sämtliche Kolleginnen und Kollegen bestätigt: «Alle sagten, sie hätten mich niemals solche oder ähnliche Dinge sagen hören.» Dies habe der Schlussbericht der Untersuchung, der am Sonntag öffentlich wurde, so bestätigt.
Laut Canonica stellte sich auch die gesamte Redaktion des «Tagi-Magis» hinter ihn. In einem Brief an Supino hätten sie geschrieben, nie eine Form von Mobbing von ihm gegen Roshani oder andere erlebt zu haben. «Ich sei ein super Chef», schreibt Canonica. Eine Person habe gar geschrieben, sie habe sich stets gewundert, weshalb Roshanis geringe Produktivität von Canonica geduldet worden sei.
Roshanis Vorwürfe, schliesst er, «völlig aus dem Kontext gerissen», klängen «schrecklich». Schrecklich aber sei, was er und seine Familie nun erlebten. «Ich werde mit Hassmails überschüttet, mit Harvey Weinstein, einem verurteilten Mehrfachvergewaltiger verglichen. Meine Kinder trauen sich kaum mehr auf die Strasse.»