Sie kämpfte für die Freiheit des belarussischen Volkes und hat dabei ihre eigene verloren. Seit acht Monaten sitzt die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin Natallia Hersche (51) in Belarus im Gefängnis. Dreimal musste sie bereits die Anstalt wechseln. Aktuell befindet sie sich in einer Arbeitsstrafanstalt in Gomel in der Nähe der russischen Grenze, wo sie Uniformen für die Sicherheitskräfte von Diktator Alexander Lukaschenko (66) nähen muss.
Ausgerechnet! Denn genau um gegen Lukaschenko und seinen brutalen Sicherheitsapparat zu protestieren, reiste Natallia Hersche vergangenen Herbst von St. Gallen nach Minsk. Als sie am 19. September an einer Frauendemonstration vorne mitlief, wurde sie festgenommen und später zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Regime wirft ihr vor, einem Polizisten bei der Verhaftung die Sturmhaube vom Kopf gerissen zu haben.
Diplomatie scheitert
Aussenminister Ignazio Cassis (60) versuchte bisher vergeblich, seinen belarussischen Amtskollegen Uladzimir Makei (62) von einer Freilassung zu überzeugen. Und aktuell ist die Lage alles andere als entspannt: Machthaber Lukaschenko zog am Sonntag die vereinigte internationale Empörung auf sich, als er einen Linienflug mit dem regimekritischen Journalisten Roman Protasewitsch (26) vom Himmel holte.
Davon hat Natallia Hersche in der Arbeitsanstalt möglicherweise noch gar nichts mitbekommen. Ihr Schweizer Partner und ihre beiden erwachsenen Töchter dürfen sie nicht besuchen. Einzig der Schweizer Botschafter in Belarus, Claude Altermatt, und ihre Anwältinnen werden von den Sicherheitskräften ins Gebäude gelassen.
«Letzten Donnerstag konnte ich während fast zwei Stunden mit Natallia Hersche reden», sagt Botschafter Altermatt zu Blick. Er hat die Gefangene inzwischen neun Mal besucht. «Das Leben in der Arbeitsstrafanstalt ist nicht einfach», sagt er. So dürfe Natallia Hersche etwa nur Briefe empfangen, wenn sie auf Russisch verfasst seien. Zum Gesundheitszustand der 51-Jährigen sagt er lediglich: «Sie muss auf ihre Gesundheit achten.»
Allabendliche Propagandavideos
Wie hart der Alltag in der Anstalt ist, schilderte Natallia Hersche kürzlich in einem Brief an ihren Bruder, den das «St. Galler Tagblatt» veröffentlichte. Der Stress beginne um sechs Uhr früh in der Näherei und ende mit dem allabendlichen «Gehirnwäscheprogramm» aus Propagandavideos.
Auch von den Briefen schreibt sie. «Ich bekomme Couverts ohne Inhalte.» Die Zensurabteilung würde die Briefe beschlagnahmen. «Heute sagte mir der Gefängnisleiter, dass die Briefe, die ich nicht bekommen habe, unanständige Sprache enthalten hätten», schreibt sie.
Umso wichtiger sei der mündliche Austausch mit der Schweizer Staatsangehörigen, sagt Botschafter Altermatt. «Das gibt ihr etwas Hoffnung. Bei unserem letzten Gespräch freute sie sich sichtlich, als ich ihr mitteilte, wie stark die Unterstützung für sie in der Schweiz und auch anderswo bleibt.»
Kein Gnadengesuch
Laut dem St. Galler Tagblatt können Angehörige von Gefangenen seit kurzem Machthaber Lukaschenko um eine vorzeitige Entlassung bitten. Doch davon will Natallia Hersche nichts wissen. Um Gnade bitten, hiesse ihre Schuld einzugestehen. Doch sie habe nichts Verbotenes gemacht.
Im Brief an ihren Bruder schreibt sie: «Ich werde kein Gnadengesuch einreichen und ich verbiete es euch, das zu tun. Ich bin bereit, die ganzen zweieinhalb Jahre meiner Strafe abzusitzen. Ich werde [das Regime] um nichts bitten.»