Schweizer Euro-Turbos in gemeinsamem Chat mit EU-Politikern, sogar der deutsche Botschafter ist dabei
Unheilige Allianz lästert über die Schweiz

National- und Ständeräte spekulieren in einem Europa-Chat zusammen mit EU-Vertretern darüber, welche grauen Eminenzen hinter Justizministerin Karin Keller-Sutter den Absturz des Rahmenabkommens verursacht haben.
Publiziert: 29.05.2021 um 01:47 Uhr
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Aktualisiert: 29.05.2021 um 09:33 Uhr
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Der Chat drehte ...
Foto: Whats App
Pascal Tischhauser

Die Enttäuschung über das Nein zum Rahmenabkommen ist bei vielen Aussenpolitikern gross. Die Schuld wird aber nicht allein beim Gesamtbundesrat gesucht. Blick stiess auf einen Europa-Chat, in dem die Volksvertreter zusammen mit EU-Parlamentariern und einem Brüssel-Korrespondenten gegen eine einzelne Bundesrätin und Spitzenbeamte wettern.

Im Chat tummelt sich beispielsweise der Europa-Abgeordnete Andreas Schwab (48). Der CDUler ist eigentlich ein umgänglicher Typ. Fast hat man das Gefühl, er ticke wie ein Landsmann. Schliesslich kommt er aus dem baden-württembergischen Rottweil, unweit der Schweizer Grenze. Just er gehört aber zur Brüsseler Garde, die sich an unseren Lohnschutzregeln stört. Logisch: Seine mittelständischen Wähler sollten einfacher in der Schweiz Aufträge ausführen können. Wenn sie dank Schwab dabei weniger streng kontrolliert werden, ist das bei den nächsten Wahlen nicht hinderlich.

«Topmann» Balzaretti

Was Wunder, lobte Schwab den früheren Schweizer Chefunterhändler fürs Rahmenabkommen, Roberto Balzaretti (56), im Chat als «Topmann!». Balzaretti war am Werk, als unser Lohnschutz plötzlich in Brüssel verhandelbar wurde – weshalb die Schweizer Gewerkschaften auf die Barrikaden gingen. Angesprochen auf den Chat, teilt Schwab Blick mit, zu seiner privaten Kommunikation nehme er niemandem gegenüber Stellung.

Aktiv im Chat ist auch der deutsche Botschafter in Bern, Michael Flügger. Ob es empfehlenswert ist, sich als Botschafter in einer Gruppe zu engagieren, die gegen die Regierung des Gastlandes schiesst, wird er selbst am besten wissen. Aufgefallen ist der Deutsche bislang nur in einem «NZZ»-Interview. Dort hat er die flankierenden Massnahmen, also den Schweizer Lohnschutz, als «vertragswidrig» bezeichnet. Flügger zog es vor, auf die Blick-Anfrage zu schweigen.

Doch zurück zu den Schweizern im harten Kern des Chats. Zum Beispiel Christa Tobler (60). Die Professorin ist zweifelsohne eine profunde Kennerin des Europarechts – aber nicht grad als EU-Kritikerin bekannt.

Spitzenbeamte seien schuld

Im Chat bezeichnet sie eine von zwei Personen als «entscheidend mitverantwortlich» dafür, dass der Bundesrat das Rahmenabkommen beerdigt hat. FDP-Nationalrätin Christa Markwalder (45) nennt diese beim Namen: «Staatssekretär Mario Gattiker und alt Staatssekretär Michael Ambühl.»

Gattiker ist Chef des Staatssekretariats für Migration und als solcher Herr über die Personenfreizügigkeit mit der EU. Und Ambühl war bei den Verhandlungen zu den bilateralen Verträgen I und II dabei. Sie zählen zu den klugen Köpfen, die in der Bundesverwaltung Karriere machten.

Aber nicht nur von Top-Beamten hält man im Chat wenig: Tobler reagiert auf Markwalders Namensnennung mit dem Satz: «Und in ihrem Gefolge KKS, oder?» Was Markwalder bestätigt. Gemeint ist Justizministerin Karin Keller-Sutter (57) – Parteifreundin der Nationalrätin.

Auf eine Frage des Deutschen Schwab, ob es «graue Eminenzen gebe, die die Schweizer Regierung steuern, antwortet der Zeitungskorrespondent: «Berater von KKS.» Er hält die Bundesrätin offenbar für ferngesteuert.

Zuvor teilten sie Artikel

Mehr als 100 Teilnehmer hat der Chat. Längst nicht alle haben denselben Fokus wie der harte Kern. Bis zum Bundesratsentscheid vom Mittwoch teilten die Mitglieder vor allem Artikel zu den Beziehungen mit Brüssel.

SP-Aussenpolitiker Eric Nussbaumer (60) erklärt sein Mittun im Chat wie folgt: «Es ist Gesetzesauftrag, im Rahmen meines Nationalratsmandats Kontakt zu Vertretern anderer Staaten und Kulturkreise zu pflegen.» Zudem fände er es gut, «wenn Experten, Verhandlungspartner und Parlamentsmitglieder über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sinnieren und nach gemeinsamen Lösungen und Interessen suchen».

Und Markwalder betont: «Ich habe im Interesse unseres Landes mehrfach Vorschläge gemacht und mit viel Aufwand und Energie versucht, dem Bundesrat goldene Brücken zu bauen, damit das Abkommen zu einem guten Abschluss kommt.» Dennoch blieben drei Streitpunkte: Die Unionsbürgerrichtlinie, die EU-Bürgern den Zugang zu unseren Sozialwerken erleichtern könnte, beim Lohnschutz und bei den staatlichen Beihilfen.

Mit der Strategie des Bundesrats, alle drei offenen Punkte einfach auszuklammern, «konnte man ja nicht zum Ziel kommen», so Markwalder. «Der Bundesrat hätte das Verhandlungskorsett in ein zielorientiertes Mandat umwandeln sollen», findet sie. Logisch kritisiere sie, dass der Bundesrat vom Verhandlungstisch weggelaufen sei.

Tobler winkt ab

Auf die Frage, ob der Chat mit «grauen Eminenzen» nicht in Verschwörungstheorien abzurutschen drohe, winkt Christa Tobler ab. Im Chat sei schlicht die Frage gestellt worden, welche Akteure zu diesem Ergebnis geführt hätten. «Entscheide fallen nicht vom Himmel. Die Zusammensetzung des Bundesrats und führende Beamte haben hier natürlicherweise Einfluss.»

Chatmitglied und Operation-Libero-Vorstand Stefan Schlegel bleibt auf Blick-Anfrage unklar. Präzise wird er aber hier: Weder aus dem Parlament noch aus dem Bundesrat sei ein Impuls zu einer Lösung zu erwarten. Daher sollte der Abbruchsentscheid per Volksinitiative korrigiert werden. In solchen Situationen könnten Volksinitiativen ihren grössten Wert entfalten.

«Es braucht anderes politisches Personal»
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