Vor dem Krieg hat Nadeschda Kudriavtseva (25) als Social-Media-Managerin gearbeitet und einen Sushi-Lieferdienst eröffnet. Nun durchkämmt sie mit einem Metalldetektor Wiesen und Felder nach Minen, Sprengfallen und Blindgängern. Die Ukrainerin ist seit knapp einem Jahr für die Schweizerische Minenräumungsorganisation Fondation suisse de déminage (FSD) als «Sapjor» – als Minenräumerin – tätig.
Etwa ein Drittel der Ukraine könnten wegen des Kriegs vermint sein. Das ist eine Fläche über viermal so gross wie die Schweiz. «Wollen wir wirklich jedes Signal des Metalldetektors untersuchen, schafft eine Person pro Tag nicht mehr als fünf Quadratmeter», sagt Aleksandr Marchenko (38), ein Kollege Kurdriavtsevas. Gemäss Bericht der slowakischen NGO Globsec, die sich dabei auf Angaben des ukrainischen Aussenministeriums stützt, bräuchte man mit dem derzeit in der Ukraine tätigen Personal über 700 Jahre, um die Ukraine frei von Minen und anderen explosiven Kriegsüberresten zu bekommen.
Ohne Minenräumung kein Wiederaufbau
Die Minenräumung ist zentral für den Wiederaufbau der Ukraine. Während sich die Behörden auf die Säuberung besonders dringend gebrauchter Infrastruktur wie Gebäude oder Strassen konzentrieren, kümmern sich Organisationen wie die FSD beispielsweise um Gebiete, die wichtig für die Land- und Forstwirtschaft sind.
Auch Nadeschda Kudriavtseva und ihre Kollegen untersuchen vor allem Äcker auf nicht explodierte Sprengköpfe. Sie tun das zuerst meist mit blossem Auge oder einem Metalldetektor. Vor ihrer Ausbildung – sechs Wochen Theorie – habe sie keine Ahnung gehabt, wie Minen aussehen, erzählt sie. «Sie in natura zu sehen, war schon irgendwie seltsam.»
Schweiz will Hilfe ausbauen
Hilfe bei der Entminung bekommt die Ukraine unter anderem von der Schweiz. An der Wiederaufbau-Konferenz, die vergangenen Monat in London stattfand, unterstrich Aussenminister Ignazio Cassis (62) das Engagement der Schweiz in diesem Bereich.
Der Bund will das Budget für humanitäre Minenräumung in den nächsten Jahren stark ausbauen. Zu den rund 18 Millionen Franken, die man bisher pro Jahr ausgegeben hat, sollen dieses Jahr mindestens 15 Millionen dazukommen, die für die Ukraine reserviert sind. Wie viel Millionen es in den kommenden Jahren sein werden, ist laut dem Aussendepartement noch offen.
Die SP macht deswegen Druck: Ihr ist das Budget zu gering und sie fordert, dass die Schweiz eine koordinierende Rolle bei den Minenräumungsarbeiten in der Ukraine einnimmt. In einem Vorstoss verlangt sie, dass die Schweiz ein internationales Programm zur humanitären Minenräumung aufbaut.
Schweizer Maschinen für die Ukraine
Das Schweizer Geld fliesst einerseits zu Organisationen wie der FSD. Der Bund will die Ukraine aber auch direkt mit Equipment unterstützen. So wird im September erstmals eine ferngesteuerte Minenräumungsmaschine der Stiftung Digger in die Ukraine geschickt.
Deren Geschäftsführer Frédéric Guerne (54) würde gern direkt in der Ukraine eine Produktionslinie aufbauen. «Damit könnte man auf den enormen Bedarf reagieren, den die Ukraine an Minenräumungsgerät hat, und auch deren Unterhalt langfristig sichern.» Er hat beim Bund um finanzielle Unterstützung für das Projekt angefragt.
Gern mit dem Bund zusammenarbeiten würde auch der zweite Schweizer Player auf dem Markt, die Firma Global Clearance Solutions (GCS) mit Sitz in Freienbach SZ. Seit Ausbruch des Kriegs habe man schon über zehn Minenräumungs-Systeme in die Ukraine geliefert, sagt Geschäftsführer Philipp von Michaelis (48). Bis Ende Jahr sollen es rund 30 sein. Die Firma bildet zudem auch Minenräumer aus.
«Eltern waren zuerst total dagegen»
«Wir werden derzeit überhäuft mit Anfragen für unsere Systeme», sagt von Michaelis. Mehr noch als das technische Gerät fehle in der Ukraine im Moment aber das Knowhow. «Manche Kunden meinen, so eine Minenräumungsmaschine funktioniere wie ein Rasenmäher. Dem ist nicht so.» Man müsse darum unbedingt auch genügend Zeit und Geld in die Ausbildung von Personal stecken.
Nadeschda Kudriavtsevas Eltern brauchte Zeit, sich an den neuen Job ihrer Tochter zu gewöhnen. «Sie waren zuerst total dagegen, dass ich als Minenräumerin arbeite», sagt sie. Inzwischen aber hätten sie es akzeptiert.
«Mit unserer Arbeit retten wir Leben», sagt sie. Für sie steht fest, dass sie in der Ukraine bleiben will, trotz des Kriegs und der Zerstörung, die dieser bringt. «Ich möchte einmal Mutter werden und will, dass mein Kind in einem sicheren Gebiet lebt, frei von Sprengkörpern.»