Auf einen Blick
- Kritik an Überarbeitung des Behindertengleichstellungsgesetzes
- Offener Brief fordert Berücksichtigung von Anliegen wie selbständiges Wohnen
- 1300 Menschen reichten im September Volksinitiative für Gleichstellung von Behinderten ein
«Islam, fahr doch, wir haben noch einen Termin», hört man eine Frau auf einem Video feixen. Die Szene zeigt Islam Alijaj, Behindertenrechtsaktivist und Nationalrat, dessen Rollstuhlräder auf dem verschneiten Gehweg durchdrehen.
Man möchte als Betrachter gern lachen, und gleichzeitig bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Denn das Video zeigt, wofür Alijaj und diverse Organisationen kämpfen: dass Menschen mit Beeinträchtigungen noch immer häufig vergessen werden im gesellschaftlichen Leben.
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Ein offener Brief
Der Verein für eine inklusive Schweiz hat deshalb einen Appell an den Bundesrat und das Parlament verfasst. Im offenen Brief kritisiert der Verein, der Gesetzgeber ignoriere bei der laufenden Überarbeitung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) die Anliegen der Betroffenen.
Der aktuelle Entwurf übergehe zentrale Anliegen der Betroffenen, etwa das Recht auf selbständiges Wohnen oder auf persönliche Assistenz.
Behindertengleichstellungsgesetz überarbeiten reicht nicht
Um eine gesetzliche Verankerung dieser Bedürfnisse zu erreichen, haben rund 1300 Menschen und Betroffenenorganisationen im September die Volksinitiative «Für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen» bei der Bundeskanzlei eingereicht. Die Inklusionsinitiative fordert, dass Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichgestellt werden.
Caroline Hess-Klein, Juristin und Abteilungsleiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap, erklärt gegenüber dem Beobachter, Bundesrat und Parlament müssten dringend nochmals über die Bücher, bevor die Änderung des bestehenden BehiG verabschiedet werde: «Es reicht nicht, husch, husch das BehiG oberflächlich zu revidieren – denn was die Initiative verlangt, muss in verschiedenen Gesetzen angepasst und koordiniert werden.»
So ist die Frage der Assistenz heute im Invalidenversicherungsgesetz geregelt, die Wohnfrage für Menschen mit Behinderung im Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen.
Gesellschaft behindert Menschen mit Beeinträchtigung
Hess-Klein erinnert daran, dass die Schweiz die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft Menschen mit Behinderung Entscheidungsfreiheit und die Teilnahme am regulären Leben ermöglicht.
«In der Schweiz werden aber nach wie vor viele Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer persönlichen Entwicklung behindert, weil sie nicht die nötige Assistenz erhalten, weil sie nicht wohnen, arbeiten oder sich ausbilden lassen können, wie sie es wollen – weil wir kein System haben, das ihre Bedürfnisse berücksichtigt», sagt Hess-Klein.
Wenn Kinder mit Beeinträchtigungen Sonderschulen besuchen, können sie später häufig nur im geschützten Rahmen arbeiten und wohnen in Heimen. «Die Strukturen in Heimen können dazu führen, dass ein 18-jähriger Mann mit einer Körperbeeinträchtigung nicht selbst über seine Schlafenszeit entscheiden kann. Das ist ein krasser Eingriff in die persönliche Freiheit.»
Mit Assistenz könnten Kosten gespart werden
Zudem würden heute Betroffene in den Institutionen auch Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen, die sie zu Hause nicht bräuchten. Wenn sie selbstbestimmt mit einer Assistenz leben könnten, könnten punktuell Kosten gespart werden.
«Weil man diesen Personen aufgrund ihres Behinderungsgrads aber eine Assistenz verweigert, sind sie teils gezwungen, im Heim zu leben – was zu Mehrkosten für die Gesellschaft führt», sagt Hess-Klein zum Beobachter.
«Schnellschuss-Revision» stoppen
Die umfassende Umsetzung der Inklusionsinitiative sei ein Generationenprojekt für die nächsten 20 bis 25 Jahre. «Es ist möglich, dass in einer Übergangsphase vom jetzigen, separativen System auf einen neuen Ansatz durch Doppelspurigkeiten Mehrkosten entstehen.»
Doch es sei zu berücksichtigen, dass seit langem ein gesellschaftlicher Konsens bestehe, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen. Entsprechend werde bereits heute Geld investiert. «Seit der Einführung des Behindertengleichstellungsgesetzes vor 20 Jahren hat ein Wandel stattgefunden, die neue Generation der Menschen mit Behinderungen ist sich ihrer Rechte mehr bewusst und ist nicht bereit, ihren Ausschluss aus der Gesellschaft weiter zu akzeptieren.»
Hess-Klein hofft, dass der offene Brief den Bundesrat dazu bringt, die «Schnellschuss-Revision» zu stoppen. «Menschen haben eine Beeinträchtigung. Ob sie behindert werden, entscheidet die Gesellschaft – und entscheidet sich auch in dieser Revision.»