Während der Pandemie harrten Menschen während Stunden bei Wind und Wetter aus, um Gratislebensmittel zu erhalten. Mittlerweile brummt die Wirtschaft wieder, doch die Schlangen vor der Lebensmittelabgabe sind nicht kürzer geworden. Im Gegenteil: Die Anzahl Menschen, die für ein paar Kilo Reis, Pasta und frisches Gemüse anstehen, hat sich seit März vervielfacht. Grund dafür ist der Krieg in der Ukraine.
Die Schweizer Tafel liefert seit der Ankunft der Ukraine-Flüchtlinge 20 Prozent mehr Lebensmittel aus, wie Geschäftsleiter Marc Ingold (56) sagt. Die Organisation sammelt bei Detailhändlern überschüssige Produkte und verteilt sie an soziale Institutionen. Gar dreimal mehr Lebensmittel verteilt das Zürcher Hilfswerk Essen für alle. Noch im Februar versorgte man 600 Familien und Einzelpersonen mit Gratispaketen, sagt Sprecherin Dina Hungerbühler (30). Vor einer Woche waren es 1800. «Ein grosser Teil davon sind Flüchtlinge aus der Ukraine», stellt Hungerbühler fest.
Je nach Kanton 10 bis 23 Franken am Tag
Der Verein Incontro in Zürich muss wegen des grossen Ansturms die kostenlosen Mahlzeiten und Lebensmittelsäcke teils sogar rationieren. «Manchmal gibt es für eine ganze Familie nur eine Mahlzeit», sagt Pfarrer Karl Wolf (67). «Wir versuchen das natürlich zu vermeiden, aber leider geht es nicht immer.» Und in Basel sieht sich das christliche Hilfswerke DaN gezwungen, Menschen abzuweisen, die aus anderen Regionen anreisen.
Flüchtlinge, die für Gratisessen stundenlang ausharren, Hilfswerke, denen das Essen ausgeht – was läuft schief in der wohlhabenden Schweiz?
Schwester Ariane (49) vom Verein Incontro sieht das Problem in erster Linie in der mangelnden Unterstützung durch den Staat. «Das Geld, das die Flüchtlinge erhalten, reicht für ein würdiges Leben nicht aus.» Besonders prekär sei die Situation jener, die auf den Erhalt des Schutzstatus S warteten und keinen Anspruch auf Asylsozialhilfe haben.
Aber auch mit dem Schutzstatus S lebt man prekär. Je nach Kanton erhalten die Flüchtlinge 10 bis 23 Franken pro Tag – für Essen, Kleider, Shampoo, Medikamente.
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Gut vernetzte Ukrainerinnen
Für die gesteigerte Nachfrage nach Gratislebensmitteln in den Städten dürfte es aber noch andere Gründe geben. So stellt Marc Ingold von der Schweizer Tafel fest: Viele Flüchtlinge wüssten nicht, dass sie übers Rote Kreuz vor Ort Lebensmittelgutscheine erhalten könnten. «Die Gemeinden kommunizieren das offenbar zu wenig», sagt Ingold. Als Folge tauchte einmal gar eine Familie aus dem entfernten Neuenburger Val-de-Travers bei der Niederlassung der Schweizer Tafel in Bern auf – obwohl die Organisation Institutionen beliefert und keine individuelle Hilfe anbietet.
Weil die Ukrainerinnen gratis Zug und Bus fahren können und untereinander gut vernetzt sind, würden sich Angebote in den Städten zudem raschherumsprechen, fügt Ingold an.
Auch Dina Hungerbühler vom Verein Essen für alle nennt unterschiedliche Gründe, warum Geflüchtete für Gratislebensmittel anstehen. «Manche sagen uns, sie hätten zu wenig Geld.» Andere lebten in kollektiven Unterkünften, wo es Essen gibt, möchten aber wieder einmal selber kochen. Dritte wiederum wollten mit einer gekochten Mahlzeit ihrer Gastfamilie eine Freude machen, sagt Hungerbühler. «Sie wollen etwas zurückzugeben.»