Frau Doll, warum hängt in Ihrem Büro kein einziges Bild?
Nikola Doll: Ich arbeite seit April beim Bundesamt für Kultur (BAK) und hatte noch keine Zeit, ein Gemälde aus dem Fundus auszuwählen.
Welche Kunst würde Ihnen gefallen?
Ich arbeite in einem Verwaltungsbau aus den 1950er-Jahren. Hier könnte man gut einen Wes-Anderson-Film drehen. Konkrete Kunst wäre passend.
Sind Sie eine Art Carla del Ponte für Raubkunst?
Ich habe grosse Achtung vor Carla Del Ponte, doch ich kann nicht, wie sie es konnte, Ermittlungen einleiten und niemanden anklagen. Historisches Unrecht können Sie nicht über ein Strafverfahren lösen.
Sie sind beim BAK für historisch belastetes Kulturerbe zuständig. Was ist das?
Es geht um Verluste von Kulturgut in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und kolonialen Kontexten.
Die Kunsthistorikerin Nikola Doll (54) ist seit April für den Bereich Raubkunst und Provenienzforschung im Bundesamt für Kultur verantwortlich. Dazu gehört auch das Sekretariat der Unabhängigen Kommission für historisch belastetes Kulturerbe. Von 2017 bis 2024 war Doll, die aus Deutschland stammt, für die Provenienzforschung im Kunstmuseum Bern verantwortlich und untersuchte auch den umstrittenen Nachlass des Münchner Sammlers Cornelius Gurlitt. Doll ist mit einem Zürcher verheiratet und mag nach eigenen Angaben ausser Kunst und Theater auch die Nachbarskatze. 2024 gab sie im Rotpunktverlag das Buch «Museen in der Verantwortung: Positionen im Umgang mit Raubkunst» heraus.
Die Kunsthistorikerin Nikola Doll (54) ist seit April für den Bereich Raubkunst und Provenienzforschung im Bundesamt für Kultur verantwortlich. Dazu gehört auch das Sekretariat der Unabhängigen Kommission für historisch belastetes Kulturerbe. Von 2017 bis 2024 war Doll, die aus Deutschland stammt, für die Provenienzforschung im Kunstmuseum Bern verantwortlich und untersuchte auch den umstrittenen Nachlass des Münchner Sammlers Cornelius Gurlitt. Doll ist mit einem Zürcher verheiratet und mag nach eigenen Angaben ausser Kunst und Theater auch die Nachbarskatze. 2024 gab sie im Rotpunktverlag das Buch «Museen in der Verantwortung: Positionen im Umgang mit Raubkunst» heraus.
Sie zitieren in einem Buch die Forscherin Lorraine Daston, wonach Bilder wie Ohrfeigen wirken könnten. Was ist damit gemeint?
Historische Objekte haben eine viel längere Existenz als wir Menschen auf der Erde. Ein Kunstwerk ist nicht nur ein ästhetisches Objekt, es erzählt so viel mehr. Hat ein Bild eine verleugnete, gewaltvolle Geschichte, dann kann uns das heute wie eine Ohrfeige treffen.
Zum Beispiel die Bilder der Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich?
Provenienzforschung ist eine Daueraufgabe.
Sie sprechen von der Erforschung der Geschichte eines Kunstwerks.
Richtig. Allgemein plädiere ich dafür, genügend Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um freie und unabhängige Forschung zu ermöglichen.
Sie waren früher am Kunstmuseum Bern für die Sammlung Gurlitt zuständig. Wenn man den Feuilletons glaubt, haben Sie in Bern alles richtig gemacht, Zürich mit der Sammlung Bührle hingegen alles falsch …
Für Bern war klar: Die Stiftung nimmt Gurlitts Erbe an und stellt sich dem Thema Raubkunst. Dazu gehörten neben Forschung der transparente Umgang mit den Erkenntnissen und der Dialog mit den Opfern oder ihren Erben. Das Kunsthaus Zürich hat im letzten Jahr eine Provenienzstrategie veröffentlicht und ist auf einem guten Weg.
Die Washingtoner Erklärung in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden, gilt seit 1998. Wieso kam es trotzdem zum Bührle-Skandal?
Seit 1998 gelten für Provenienzforschung erhöhte Sorgfaltspflichten, aber es fehlt immer noch an verbindlichen Standards. Ein Museum sollte wissen, welche Werke sich in der Sammlung befinden und unter welchen Umständen diese 1933 bis 1945 ihre Eigentümer gewechselt haben.
Auf einer Skala von 0 bis 10: Wie weit ist die Provenienzforschung in der Schweiz?
Das lässt sich nicht sagen. Nicht in allen Sammlungen schlummert Raubkunst. Aber man kann es nicht ausschliessen – deswegen braucht es Forschung.
Der Bundesrat will eine unabhängige Kommission für historisch belastetes Kulturerbe schaffen. Nehmen wir an, mein Grossvater wäre von den Nazis verfolgt worden und hätte Kunst verkaufen müssen, um seine Flucht in die USA zu finanzieren. Könnten Sie mir helfen, sein Bild aus der Bührle-Sammlung zurückzubekommen?
Erst einmal müssten Sie versuchen, mit der Sammlung eine gütliche Einigung zu treffen. Provenienzrecherchen sind die Grundlage für eine Beurteilung, ob ein Werk Raubkunst ist. Wenn Sie sich in den Verhandlungen nicht einigen können, könnten Sie sich an die neue Kommission wenden.
Und dann?
Die Kommission wird Ihr Dossier genau analysieren, die Gegenseite zu Wort kommen lassen, die Positionen abwägen und am Ende eine Empfehlung aussprechen. Diese ist aber rechtlich nicht bindend.
Sie ist also nur «Soft Law» – was bringt das?
Es geht um eine Eskalationsstufe. Im Idealfall gibt es eine gütliche Einigung. Scheitert diese, soll ein Gremium den Fall prüfen und einen Vorschlag zur Konfliktbefriedung machen. Das wäre in diesem Fall die unabhängige Expertenkommission.
Der Nationalrat möchte, dass das Gremium einseitig angerufen werden kann; der Ständerat will, dass beide Streitparteien zustimmen müssen. Warum ist Kulturministerin Elisabeth Baume-Schneider für eine einseitige Anrufung?
Es bestehen oft ein Machtgefälle und unterschiedliche Sichten auf Ereignisse in der Vergangenheit. Wenn eine Seite nicht an einer Lösung interessiert ist, bleibt der Konflikt. Bei einer einseitigen Anrufung kann die andere Partei die Einschaltung der Kommission nicht verhindern.
Ist die beidseitige Anrufung eine Art Mediation?
Nein. Bei einer Mediation verpflichten sich die Parteien, die gemeinsam erarbeitete Lösung anzuerkennen. Unsere Kommission beurteilt als Expertengremium einen Streitfall und gibt eine nicht bindende Empfehlung.
Wann nimmt die Kommission ihre Arbeit auf?
Zunächst muss das Parlament entscheiden. Danach wird der Bundesrat die Kommissionsmitglieder ernennen – idealerweise pünktlich zur neuen Kulturbotschaft im Januar 2025.
Was kann ein Museum tun, das gerne Provenienzforschung betreiben würde, dafür aber kein Geld hat?
Seit 2016 unterstützt der Bund öffentliche und private Museen und Sammlungen mit Finanzhilfen. Bis 2022 haben wir 44 Projekte gefördert. Aktuell fördern wir 28 Projekte – hier geht es um Raubkunst im NS-Zusammenhang, aber auch um Verluste aus kolonialen Kontexten und um archäologische Sammlungen. Das Fördervolumen beträgt zwei Millionen Franken.
Gerechtigkeit kann man nicht kaufen. Was sagen Sie zur teilweise antisemitisch grundierten Polemik, Provenienzforschung sei reine Abzocke – davon profitierten US-Grosskanzleien, nicht aber die Opfer des Nationalsozialismus?
Jeder Fall ist anders. Provenienzforschung rekonstruiert im Einzelfall die Verfolgung, Beraubung und Aneignung – wertet aber nicht und trifft keine Entscheidungen. Das müssen die Eigentümer machen.
Trotzdem droht die Gefahr, dass sämtliche Kunst, die von 1933 bis 1945 jüdische Besitzer in Europa hatte, abgehängt werden muss.
Das ist Schwarz-Weiss-Denken! Manchen Opfern und Erben geht es nicht ums Geld, sondern um die Anerkennung von historischem Unrecht. Museen können dazu einen Beitrag leisten. Das Kunstmuseum Basel etwa hat beschlossen, die Biografie eines jüdischen Sammlers aufzuarbeiten und auszustellen. Es gibt auch die Möglichkeit, dass das Bild den Eigentümer wechselt, aber im Museum verbleibt: Für die Besuchenden ändert sich so nichts.