Quereinsteiger ohne Diplom – Bildungsforscherin gibt oberster Lehrerin recht
Ein Crashkurs reicht nicht fürs Klassenzimmer

Weil ausgebildete Lehrerinnen fehlen, unterrichten auch Personen ohne Lehrdiplom. Die oberste Lehrerin ist alarmiert. Doch wie berechtigt sind ihre Sorgen?
Publiziert: 10.08.2022 um 01:24 Uhr
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Aktualisiert: 10.08.2022 um 07:47 Uhr
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Die oberste Lehrerin der Schweiz Dagmar Rösler macht sich grosse Sorgen um die Bildungsqualität.
Foto: keystone-sda.ch
Sophie Reinhardt und Lea Hartmann

Viele Lehrerinnen und Lehrer, die unterrichten, sind für ihren Job gar nicht richtig qualifiziert. Wegen des Lehrermangels stellen Schulen schon lange auch Personen ohne Lehrdiplom an – und das inzwischen nicht mehr nur für Minipensen oder als Stellvertretung.

Beim Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) verfolgt man diese Entwicklung mit Besorgnis. Verbandspräsidentin Dagmar Rösler (50) wählte an einer Medienkonferenz am Montag ungewohnt deutliche Worte. Die Bildungsqualität sei in grosser Gefahr. Oft könne man nicht mehr von Bildung, sondern bloss noch von Betreuung sprechen. «Wenn ich erfahren würde, dass meine Tochter zu einer Lehrperson kommt ohne Ausbildung, dann weiss ich nicht, dass ich noch gut schlafen könnte.»

«Ein guter Draht zu Schülern reicht nicht»

Aus Röslers Worten spricht die Angst, dass der eigene Berufsstand abgewertet wird. Doch auch für Erziehungswissenschaftlerin Katharina Maag Merki (58) von der Universität Zürich steht fest: Es gibt allen Grund, beunruhigt zu sein. «Ich gebe Frau Rösler vollkommen recht. Die Forschung zeigt klar: Es kommt auf die Lehrperson an, ob Schülerinnen und Schüler lernen können oder nicht. Ihre fachliche Kompetenz ist zentral», sagt die Professorin. Sie hat selbst einst die Ausbildung zur Primarlehrerin gemacht, hat mehrere Jahre unterrichtet und war Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung.

«Eine Lehrperson muss wissen, wie man Wissen vermitteln, wie das Lernen unterstützt werden kann», sagt Maag Merki. Jemand ohne pädagogische Ausbildung habe vielleicht einen guten Draht zu Schülern, «aber das reicht nicht, wenn es darum geht, Lernziele zu erreichen». Da reiche auch ein Crashkurs nicht, wie ihn Pädagogische Hochschulen nun angesichts der Notsituation anbieten.

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Pandemie verschärfte den Lehrermangel

Laut dem Lehrerverband ist der Lehrermangel schlimmer denn je. Ob dem wirklich so ist, kann Bildungsexpertin Maag Merki nicht sagen. «Es gibt immer wieder Jahre, in denen es knapp ist.» Nun hätten sich die Probleme aber kumuliert. «In der Corona-Pandemie waren die Schulen am Limit. Und jetzt noch die Ukraine-Krise. Diese Kombination macht es sehr schwierig.»

Katrin Messerli Kallen (51), Co-Präsidentin des Schulleiterverbands Bern, sagt, sehr viele Lehrpersonen, die kurz vor der Rente standen, hätten nach der strengen Corona-Zeit genug gehabt. «Sie sind erschöpft und haben sich frühpensionieren lassen.»

Laut der Schulleiterin ist es im Kanton Bern ein Novum, dass ungelernte Personen auch für grössere Pensen oder sogar als Klassenlehrpersonen eingesetzt werden. Solche Fälle sind allerdings selten. Neun Prozent der Lehrerinnen und Lehrer im Kanton haben kein anrechenbares Diplom, darin miteingerechnet sind allerdings auch Personen, die sich gerade in der Lehrerausbildung befinden. Ausserdem hätten Lehrer ohne Ausbildung im Schnitt deutlich tiefere Pensen, und die Mehrheit sei nur befristet angestellt, betonen die Berner Behörden. Das ist die Lage in einem Kanton, in dem der Lehrermangel laut Kennern besonders akut ist.

Tiefe Pensen, mehr Probleme

Zudem: Ausgerechnet in denen Kantonen, die jetzt den Lehrermangel beklagen, ist der durchschnittliche Beschäftigungsgrad sehr tief. Im Kanon Bern, Aargau und Solothurn liegt er gemäss Bildungsbericht 2018 unter 60 Prozent. Tiefe Pensen von 50 Prozent und weniger sind in der Westschweiz deutlich weniger verbreitet als in der Deutschschweiz – und dort wird deutlich weniger vom Mangel an Lehrpersonen berichtet.

Maag Merki findet es sinnvoll, dass Teilzeitpensen erlaubt sind, allerdings sei ein durchschnittlicher Beschäftigungsgrad unter 60 Prozent deutlich zu tief. «Zudem haben es die Schulen auch in der Hand, ein attraktives Arbeitsumfeld zu gestalten.»

Um den Lehrermangel nachhaltig zu beheben, sieht sie aber vor allem die Politik in der Pflicht. Die Ausbildung müsse beispielsweise laufend verbessert werden, und man müsse hinkriegen, dass die Lehrer länger im Job bleiben. «Uns gelingt es noch nicht, ein Bildungssystem auf die Beine zu stellen, in dem alle Kinder durch ausgebildete Lehrpersonen unterrichtet werden. Wenn man weiss, wie wichtig Bildung für ein Land ist – gerade für ein Land wie die Schweiz –, ist das eine Katastrophe.»

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