Post-Präsident Levrat zum Kahlschlag
«Es ist die Ausgangslage, die sich geändert hat – nicht ich»

Als SP-Präsident kämpfte Christian Levrat für den Erhalt des Service Public. Nun schliesst er als Verwaltungspräsident Post-Filialen. Im Interview erklärt er den Wandel.
Publiziert: 13.06.2024 um 12:07 Uhr
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Aktualisiert: 13.06.2024 um 12:44 Uhr
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Verwaltungsratspräsident Christian Levrat muss einen Abbau der Poststellen durchführen.
Foto: keystone-sda.ch
Christian Rappaz

Christian Levrat (53) hat als ehemaliger Gewerkschafter und SP-Chef für mehr Poststellen gekämpft. Als Verwaltungsratspräsident der Post will er 170 Filialen bis 2028 schliessen – und steht seither unter heftigem Beschuss. Im Interview mit Blick und «L'illustré» weicht er keiner Frage aus.

Blick: Christian Levrat, ist es nicht ein Widerspruch, wenn Sie jetzt Poststellen schliessen, aber noch im August 2023 sagten, die Post soll so nahe wie möglich an der Bevölkerung arbeiten?
Christian Levrat: Genau das tun wir, indem wir die Zahl der Kontaktstellen im Dienste der Bevölkerung vervielfachen. In den 90er-Jahren gab es 3000 Postfilialen im ganzen Land. Heute gibt es fast 5000 Kontaktstellen, darunter 769 Postfilialen, 1237 in Geschäften integrierte Postagenturen, 1898 Heimdienste, 275 «MyPost-24-Automaten» wo die Paketaufgabe und -abholung rund um die Uhr möglich ist, und 563 «MyPost-Service».

Das bedeutet aber nicht, dass es sie überall gibt ...
Wo es keine zufriedenstellende Lösung gibt, gibt es den Pöstler oder die Pöstlerin vor der Tür. Es ist schwierig, näher an der Bevölkerung zu sein. Wir haben das dichteste Netz von Zugangspunkten in Europa, insbesondere mit unseren eigenen Poststellen.

Wie viel spart die Post durch die Schliessung von Poststellen?
30 Millionen Franken. Es wird aber keine Filiale geschlossen, ohne dass eine alternative Lösung gefunden wird. Unsere Umfragen zur Kundenzufriedenheit sprechen eine deutliche Sprache. «My Post 24» steht an der Spitze der Umfrage, gefolgt von den Postagenturen und den Ämtern. Alle drei weisen eine Zufriedenheitsrate von rund 80 Prozent auf. Ein Beweis dafür, dass die Post den Menschen das bietet, was sie erwarten.

Die Schliessungen werden zum Abbau von 680 Arbeitsplätzen führen. Gleichzeitig müssen Sie 1380 Personen einstellen, um Pensionierungen zu kompensieren. Werden die 680 bevorzugt?
Natürlich. Wir werden alles tun, um die betroffenen Angestellten zu halten. Niemand wird aufgrund der Strategie entlassen. In unseren Plänen ist das Delta 700 Personen.

Vier Tage nach der Ankündigung der Schliessungen kündigte die Post eine Lohnerhöhung von 1,7 Prozent für jene an, die dem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind, und eine Erhöhung des Mindestlohns von 4000 auf 4100 Franken. War das ein Mittel, um die Schliessungen besser zu vermitteln?
Keineswegs. Es war nur ein kalendarischer Zufall. Wir haben seit Monaten mit den Gewerkschaften verhandelt, und ich bin besonders froh über dieses Ergebnis.

In den letzten zehn Jahren haben Sie kumuliert 4 Milliarden Franken Gewinn gemacht. Parlamentarier wollen nun wissen, warum die Post ihre Preise erhöht, obwohl sie grosse Gewinne macht. Was antworten Sie?
Dass von diesen 4 Milliarden, abgesehen von der Dividende von 50 Millionen Franken – die jedes Jahr an den Bund ausgeschüttet wird (200 Millionen Franken bis 2020) – alles massiv in die Modernisierung der Infrastruktur reinvestiert wurde. Aber nicht nur. Im letzten Jahr kostete uns beispielsweise die Teuerung rund 100 Millionen Franken an externen Kosten. Wie alle Unternehmen ist also auch die Post gezwungen, ihre Tarife anzupassen.

Die SP bekämpft Ihre Schliessungsstrategie. In einer RTS-Sendung haben Sie einem Ihrer Genossen geantwortet, dass er sich irrt.Heisst das, dass Sie sich damals auch geirrt haben?
Es könnte sein, dass sich die Zeiten und damit auch die Bedürfnisse inzwischen geändert haben. Vor 20 Jahren hatte noch niemand ein Smartphone. Seitdem hat sich alles verändert. Heute gehen fast viermal weniger Kunden für Einzahlungen an den Schalter, allein in den letzten fünf Jahren waren es 50 Prozent weniger. Auch die Besucherzahlen in den Poststellen haben sich halbiert. Wir müssen uns anpassen, unsere Leistungen mit der gleichen Nähe und Effizienz bringen, aber in einem sich ständig ändernden Umfeld. Wir können uns nicht vor den Bedürfnissen der Konsumenten verschliessen und so tun, als wären die letzten zwanzig Jahre nicht passiert.

Es muss Ihnen trotzdem komisch vorkommen, die SP gegen sich zu haben ...
Natürlich ist das ein bisschen komisch. Ich wünsche mir, dass diese Diskussion auch in den linken Parteien vertieft wird. Das ist das Paradoxon des öffentlichen Dienstes. Die Konsumenten, auch die Politiker, kommen immer seltener oder gar nicht mehr in die Postfilialen, sondern erledigen ihre Geschäfte online, bezahlen mit Twint oder Apple Pay. Aber als Staatsbürger haben sie eine komplett andere Haltung, halten die Poststelle für sakrosankt und das Bargeld – obwohl sie es kaum noch benutzen – für entscheidend. Dasselbe Phänomen sieht man zum Beispiel bei Bioprodukten. Jeder befürwortet sie, aber nur wenige kaufen sie. 

WürdenSie sagen, dass die Beschwerden und die Kritik an unserer Post – die immerhin sieben Mal in Folge vom Weltpostverein zur besten Post der Welt gewählt wurde – ungerechtfertigt und übertrieben sind?
Ja, natürlich. Aber diese Kritik ist auch eine Chance. Denn es ist wirklich eine Chance, eine offene Debatte über unsere Strategie mit breiten Kreisen der Bevölkerung zu führen. Für mich haben wir 9 Millionen Trainer, wie die Schweizer Fussballmannschaft.

Die Spuren Ihres 25-jährigen politischen Engagements bei der SP sind so tief, dass man den Eindruck hat, dass Sie sich ständig rechtfertigen müssen. Nervt Sie das?
Zunächst einmal bin ich froh, wenn ich ein paar Spuren hinterlassen konnte. Wenn die Diskussion aus der Öffentlichkeit kommt, stört mich das nicht. Es ist eine Gelegenheit, über die Entwicklung der Gesellschaft und damit auch der Post in den letzten 20 Jahren zu diskutieren. Weniger geduldig bin ich, wenn die Kritik von Journalisten kommt, deren Beruf es eigentlich wäre, dieses Phänomen zu analysieren und darüber zu diskutieren.

In Ihren Augen machen die Journalisten das falsch?
Es fällt mir auf, dass einige Medien Zitate, die 20 Jahre auseinanderliegen, gegeneinander ausspielen, ohne dies zu erwähnen oder den Inhalt zu diskutieren. Für mich ist das eine Art Nullniveau des Journalismus, denn das ganze Argument lautet ja: Die Gesellschaft hat sich verändert, die Post muss das auch tun. Darüber muss man sich unterhalten.

Dennoch sehen Sie viele, die Sie während Ihrer politischen Amtszeit als Held bezeichneten, heute als eine Art Verräter oder zumindest als jemanden, der die Seiten gewechselt hat ...
Wenn die Situation heute dieselbe wäre wie 2002, als wir über die Initiative «Postdienste für alle» abstimmten, könnte ich das verstehen. Aber angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die stattgefunden haben, ist es der gesunde Menschenverstand, das Unternehmen weiterzuentwickeln. Es wäre besorgniserregend, wenn sich meine Einschätzung nicht geändert hätte. Meine Überzeugungen sind immer noch dieselben. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass der öffentliche Dienst für unser Land entscheidend ist, dass die Post ein zentraler Akteur für seinen Wohlstand ist und dass der Zugang zu ihren Leistungen für alle unerlässlich ist. Um unserem Auftrag gerecht zu werden und Arbeitsplätze zu sichern, müssen wir den Mut haben, uns weiterzuentwickeln.

Sie tragen doch Ihre Vergangenheit wie einen Klotz am Bein, oder?
Ja und nein. Es ist gerade dieses zwanzigjährige Engagement für den öffentlichen Dienst und die Randregionen, das mein Handeln heute bestimmt und mir vielleicht eine gewisse Glaubwürdigkeit verleiht. Wenn ich mit diesen Überzeugungen zur Bevölkerung komme und sage: «Wir müssen eine Reform machen, intelligent, mit Rücksicht auf alle, aber wir müssen sie machen», dann glaube ich, dass sie mir zugestehen, dass ich ihr die nötige Aufmerksamkeit gewidmet habe. Es ist die Ausgangslage, die sich geändert hat – nicht ich. Meine Rolle ja, meine Überzeugungen nein!

Manchmal macht man sich auch über Ihr Jahresgehalt von 230'000 Franken für eine Halbtagsstelle lustig ...
Ich bin froh, dass Sie das Thema ansprechen, denn es gibt viele Fantasien dazu. Auch wenn ich nicht zu stark darauf eingehen möchte, werde ich transparent sein. Zunächst einmal arbeite ich praktisch zu 100 Prozent für die Post, mit Wochen, die genauso vollgepackt sind wie zu meiner Zeit als Bundesparlamentarier und Parteichef. Eine Tätigkeit, die es mir damals übrigens ermöglichte, etwas mehr zu verdienen als heute.

Wie viel fliesst auf Ihr Konto?
Um es ganz klar zu sagen: Ich verdiente bei der Post, nach Abzug der Sozialabgaben, im Jahr 2023 164'676 Franken. Natürlich netto, da ich weder einen Bonus noch eine Gewinnbeteiligung erhalte. Das sind rund 13'000 Franken pro Monat, ein komfortables Gehalt, mit dem ich sehr gut leben kann. Aber ist es wirklich skandalös, ein Unternehmen mit 46'000 Mitarbeitern und 7 Milliarden Umsatz zu leiten? Das werden die Leute entscheiden. Ich kenne viele Manager von kleinen und mittleren Unternehmen oder Beamte, die genauso viel oder sogar noch mehr verdienen.

Ist die Politik für Sie vorbei?
Ja, vorbei. Ich habe einen Schlussstrich gezogen, ein neues Kapitel aufgeschlagen. Mein letztes politisches Mandat war jenes des Gemeindeparlamentariers meiner Gemeinde Vuadens FR. Ich habe 25 Jahre lang Politik gemacht, ich glaube, ich habe mehr oder weniger alles erreicht. Eigentlich bin ich sehr glücklich bei der Post. Vielleicht ist man exponierter, weil man manchmal unpopuläre Entscheidungen treffen muss. Aber das ist Teil des Jobs. Und die Post ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Wohlstands des Landes. Was die heutige Politik selbst betrifft, halte ich mich lieber bedeckt. Ich war schon immer misstrauisch gegenüber denjenigen, die ihren Nachfolgern Lektionen erteilen. Ich möchte nicht in diese Falle tappen ...

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