Der Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungs- wie auch um die Kriegsgeschäfte-Initiative wurde mit der Moralkeule geführt. Das erste Begehren scheiterte nur am Ständemehr, das zweite schaffte ebenfalls einen Achtungserfolg. Ist die Gesellschaft also moralischer geworden? Findet ein Wertewandel statt? Marc Bühlmann (49), Direktor von Année Politique Suisse und Politologie-Professor an der Uni Bern, schätzt die Situation im BLICK- Interview ein.
BLICK: Herr Bühlmann, die Konzernverantwortungs-Initiative ist am Ständemehr gescheitert, hat aber das Volksmehr geschafft. Hat Sie dieses Resultat überrascht?
Marc Bühlmann: Volksinitiativen haben es aus Erfahrung schwer, deshalb habe ich eher mit einem knappen Nein gerechnet. Dass es knapp für ein Volks-Ja gereicht hat, hängt mit den Konfliktlinien zusammen, die doppelt mobilisiert haben. Die Forderung hat nicht nur Linke mobilisiert, sondern eben auch kirchliche Kreise, denen die humanitäre Tradition der Schweiz ein Anliegen ist.
Vor zehn Jahren wäre die Initiative wohl chancenlos gewesen. Ist die Gesellschaft schlichtweg moralischer geworden?
Nein. Wer die Initiative aus Angst vor den wirtschaftlichen Risiken abgelehnt hat, ist ja nicht unmoralisch. Der Achtungserfolg hängt weniger von der Moral als von der Mobilisierung ab. Diese wiederum hängt davon ab, welche Themen virulent sind. Vor zehn Jahren war es die Migrationsfrage, heute sind es Umwelt und Klimawandel. Damit lassen sich weltoffene Städter besser mobilisieren als konservative Landbewohner.
Dann handelt es sich nicht um einen grundlegenden Wertewandel, sondern um einen temporären Hype?
Das würde ich so nicht sagen. Die Bevölkerung ist wohl immer noch eher konservativ.
Ein Wertewandel oder eine Richtungsänderung findet nur langsam statt. Nehmen Sie das Beispiel des Frauenstimmrechts: 1959 wurde es von einer Mehrheit noch abgelehnt – mit Argumenten, für die man heute in der Luft zerrissen würde. Oder nehmen Sie die Frage des straflosen Schwangerschaftsabbruchs: Es brauchte mehrere emotionale Abstimmungen, heute ist das Thema praktisch unbestritten. Es braucht oft einen langen Atem, bis etwas mehrheitsfähig wird und sich der langsame Wandel dann zum Beispiel in einem Abstimmungsresultat zeigt.
Dann sollen die Initianten nicht lockerlassen und gleich eine neue Initiative lancieren?
Wenn sie gleich wieder eine neue Initiative lancieren, wird das wohl eher als Zwängerei empfunden. Die zweite Armeeabschaffungs-Initiative beispielsweise ging auch deshalb in die Hosen.
Was raten Sie den Initianten also?
Sie haben einen Teilerfolg erreicht, auf dem sie aufbauen können. Indem sie versuchen, beim Gegenvorschlag Verbesserungen herauszuholen, etwa durch parlamentarische Vorstösse. Und indem sie weiterhin auf die internationale Entwicklung aufmerksam machen. Steter Tropfen höhlt den Stein.
Schneller geht es doch, wenn man das Ständemehr abschafft.
Der Ruf nach dessen Abschaffung gehört zum politischen Spiel, bringt aber nichts. Das Ständemehr liesse sich ja nur via Ständemehr abschaffen.
Sehen Sie keine Chance, dass der alte Zopf abgeschnitten wird?
Mit dem Ständemehr will man verhindern, dass es dauerhafte Minderheiten gibt. Schaut man sich auf der Schweizer Karte an, welche Gemeinden die Konzernverantwortungs- Initiative abgelehnt haben, dann ist die rote Fläche viel grösser als die grüne. Wer fragt, ob es fair ist, dass ein Appenzell Innerrhoder 40-mal mehr Stimmengewicht hat als ein Zürcher, muss sich ebenso fragen, ob es fair wäre, wenn die Appenzeller ständig unter der Zürcher Mehrheit leiden müssten. Unter dem Strich ist das System ja recht ausgeglichen, und das Ständemehr kommt nur selten zum Tragen. Die Debatte um das Ständemehr ist zwar wichtig, wird aber rasch im Sand verlaufen.
Dürfen die Initianten nun wenigstens darauf hoffen, dass Konzerne wie Glencore und Co. moralischer werden?
Das glaube ich nicht. Für multinationale Konzerne ist die Schweiz schlicht zu unbedeutend. Bei den grossen Konzernen sind kaum noch Schweizer Patrons am Ruder, sondern internationale Manager. Diese lassen sich von einer Volksabstimmung nicht abschrecken, sondern verlegen notfalls den Firmensitz. Entscheidend ist nicht, was in der Schweiz passiert, sondern ob es in der EU strengere Regeln geben wird. Dann wird auch die Schweiz nachziehen müssen.