Opfer der Versorgungskrise in der Jugendpsychiatrie
Alessandra (14) bekam trotz Suizidversuch keinen Klinikplatz

Die Versorgungskrise in der Jugendpsychiatrie ist gross. Die Tochter von Kathrin Gfeller musste trotz Suizidversuch monatelang auf einen Platz in der Klinik warten. Nun wird das Parlament aktiv. Eine Expertin warnt aber: Die Vorstösse seien nicht zielführend.
Publiziert: 12.06.2024 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 13.06.2024 um 18:24 Uhr
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Die Versorgungskrise in den Kinder- und Jugendpsychiatrien ist schweizweit gross.
Foto: STEFAN BOHRER
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Céline ZahnoRedaktorin Politik

An den vergangenen Frühling kann sich Kathrin Gfeller* kaum erinnern. Gab es den überhaupt, fragt sie sich heute? Wie ein dunkles Vakuum klafft er in ihrem Gedächtnis. 

Es war die Zeit der Warteliste. Gfellers 14-jährige Tochter Alessandra* hatte kaum Kraft, ihren Alltag zu bewältigen, ging immer weniger zur Schule. Die Diagnose: eine schwere Depression. Ihre Psychologin schlug Alarm. Sie brauche so schnell wie möglich einen Klinikplatz in der Jugendpsychiatrie. «Ich dachte, nach der Anmeldung gehe es schnell», erzählt Gfeller heute. Sie hatte ihr Handy überall mit dabei, sogar auf der Toilette. Nur: Der Anruf von der Klinik kam nicht.

Auch dann nicht, als die Tochter zwei Monate später versuchte, sich das Leben zu nehmen. Für 72 Stunden wurde Alessandra in die Notfallstation der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) eingewiesen. Dann musste sie wieder nach Hause. In der Jugendpsychiatrie hatte es keinen Platz. 

Weitere zwei Monate vergingen. Für Gfeller eine Strapaze. Sie arbeitete aus dem Homeoffice. «Am Tag bin ich nur noch aus dem Haus, wenn jemand bei meiner Tochter war. In der Nacht habe ich auf einer Matratze neben ihr geschlafen.» Bei jedem Geräusch sei sie aufgewacht. Die Antennen immer auf Empfang.

Rekordhohe Notfallzahlen

Die Wartezeiten in den Kinder- und Jugendpsychiatrien sind schweizweit lang. Notfallbehandlungen sind nach den Corona-Jahren auf ein neues Rekordniveau angestiegen und seither konstant hoch geblieben. Dies bestätigen verschiedene Kliniken auf Anfrage von Blick. 

So hoch, dass es Fälle wie jenen von Alessandra gibt. Zwar erfolgen kurze Notfallbehandlungen immer ohne Wartezeit, wie es bei der UPD heisst. Und Patientinnen würden nur entlassen, wenn sie nicht mehr als akut suizidgefährdet eingeschätzt werden. Die Notfallbehandlungen sind allerdings von kurzer Dauer, auf den anschliessenden Platz in der stationären Klinik müssen auch Betroffene in grosser Not oft wochen- oder monatelang warten.

Die langen Wartezeiten verschärfen die Situation von psychisch kranken Personen oft noch zusätzlich. Das zeigt sich zum Beispiel beim Beratungsangebot 147 von Pro Juventute. «Es melden sich vermehrt Jugendliche, die auf ein Behandlungsangebot warten müssen», so Lulzana Musliu (35), Leiterin Politik und Medien bei Pro Juventute. Im Vergleich zu 2019 hat sich diese Zahl fast verdreifacht.

Parlament wird aktiv

Am Mittwoch widmet sich der Nationalrat dem Thema. Zwei Vorstösse wollen die Notlage mit einer kostendeckenden Tarifstruktur und einer Ausbildungsoffensive für Fachpersonal verringern. 

Damit greifen sie zwei Kernprobleme der Versorgungskrise auf. Zum einen sei die Psychiatrie chronisch unterfinanziert, bestätigt Bigna Keller (60), Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP). Das liege am veralteten Ärztetarif. Zum anderen würden Fachkräfte fehlen. Das Fach sei für Nachwuchs nicht attraktiv. Die Einkommen sind im Vergleich mit anderen Bereichen tief, die psychotherapeutische Ausbildung müsse man aus der eigenen Tasche zahlen. «Zudem ist der Druck im Beruf enorm gross.» 

Lösungen auf der langen Bank

Selbst wenn eine Mehrheit des Nationalrats am Mittwoch zustimmt, sind die politischen Probleme laut Keller nicht behoben. Denn: Einen verbesserten Tarif kann nicht der Bund beschliessen, sondern muss zuerst von den Tarifpartnern verhandelt werden.

Hier ist vor rund fünf Jahren ein Durchbruch gelungen. Alle Tarifpartner haben sich auf den neuen Tarif Tardoc geeinigt. Er wurde vom Bundesrat allerdings noch immer nicht genehmigt. «Wir befinden uns seit Jahren in einer Warteschlaufe», kritisiert Rosilla Bachmann Heinzer (52), vom Dachverband der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie (FMPP). Eine verbesserte Tarifstruktur könnte die Situation der Kinder- und Jugendpsychiatrie zwar nicht ganz lösen, aber sicher etwas entlasten. 

Bei Kathrin Gfeller kam der erlösende Anruf nach vier Monaten endlich. Alessandra konnte in die Klinik. Und Gfeller aufatmen. 

*Name geändert 

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