Bis zu 12 Monate
Lange Wartezeiten für Kinder-Abklärungen – wie kann das sein?

Die Kinder von heute sind die Gesellschaft von Morgen, heisst es. Wenn Kinder psychisch belastet sind oder Verhaltensstörungen zeigen, müssen Eltern heute bis zu einem Jahr warten, um dies abzuklären. Warum ist das so?
Publiziert: 03.05.2024 um 19:49 Uhr
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Aktualisiert: 04.05.2024 um 14:41 Uhr
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Kinderarzt Oskar Jenni klagt im Interview mit Blick über lange Wartezeiten für Abklärungen wegen Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen bei Kindern.
Foto: Philippe Rossier
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Alexandra FitzCo-Ressortleiterin Gesellschaft

Kinderarzt Oskar Jenni (57) weiss, wie es unseren Kindern geht. Der Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich forscht seit vielen Jahren zu unseren Kleinsten. Gemeinsam mit anderen Experten veröffentlichte er diese Woche das Buch «Kindheit» – und lässt im Interview mit Blick mit einer Aussage aufhorchen: «Die Wartezeiten für Abklärungen wegen Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen am Kinderspital Zürich betragen aktuell zwölf bis 18 Monate.»

Ein Jahr warten, bis man weiss, was mit dem eigenen Kind los ist? Wie sieht das bei anderen Kliniken in der Schweiz aus? Eine Blick-Umfrage zeigt: Das Kinderspital Zürich ist kein Einzelfall. Alle befragten Kliniken sprechen von Wartezeiten von bis zu einem Jahr. Der Überblick:

Chur

Im Departement Kinder- und Jugendmedizin des Kantonsspitals Graubünden beträgt die Wartezeit je nach Erkrankung neun bis zwölf Monate.

St. Gallen

In der Entwicklungspädiatrie am Ostschweizer Kinderspital wartete man vor einem Jahr drei bis sechs Monate, derzeit acht bis zwölf. Ursachen sind personelle Engpässe. Zudem sind die Ärzte für ein grosses Einzugsgebiet zuständig. 

Basel

Auch im Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) wartet man zehn Monate, um sein Kind wegen Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen abzuklären. In Kinderarztpraxen in Basel zwischen sechs und zwölf Monaten. Mark Brotzmann (45), Leitender Arzt und stellvertretender Abteilungsleiter Entwicklungspädiatrie, sagt: «Seit 2010 und verstärkt während und nach den Corona-Jahren sehen wir gesamthaft mehr Kinder aufgrund von Abklärungen und Beurteilungen. Dies nicht nur wegen der Diagnose ADHS, sondern auch wegen anderer Verhaltensauffälligkeiten und Störungen.»

Winterthur

Im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) in Winterthur kommt es auf die Art der Störung an. Ist ein Kind traumatisiert oder suizidgefährdet, gibt es sofort eine Abklärung. Bei neurokognitiven Störungen wie ADHS oder Autismus (ASS) betrage die Wartezeit derzeit bis zu 12 Monate. Schon Ende März berichtete Blick, dass die Wartezeiten für die Abklärungen einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in der Schweiz einen neuen Höchststand erreicht haben. «Die Häufigkeit von einigen psychischen Störungen hat weltweit zugenommen», sagt Kurt Albermann (60), Leiter des SPZ. 

Die Gründe für die lange Wartezeit für Abklärungen sind vielfältig. Einerseits findet eine Sensibilisierung statt: «Es ist erfreulich, dass Eltern und Lehrkräfte offener darüber sprechen und die Bereitschaft für Abklärungen gestiegen ist. Man will sicherstellen, dass Entwicklungsbedürfnisse der Kinder nicht übersehen werden, um angemessene therapeutische Massnahmen zu ergreifen», sagt Brotzmann aus Basel.

Zudem heisst es vonseiten der Ärzte, dass die Anspruchshaltung der Bevölkerung enorm gestiegen sei. Kinder werden heute in unserer Gesellschaft anders gefordert als früher, und so kommen Belastungen zum Vorschein. 

Brotzmann sagt: «Das heutige Schulsystem stellt viele Kinder vor Herausforderungen, indem es Selbstständigkeit verlangt, aber wenig Unterstützung bietet. Dies führt zu Überforderung und mangelnder Anpassung an individuelle Bedürfnisse.» Die zunehmende Digitalisierung verstärke diese Diskrepanz. So können Kinder desinteressiert und unaufmerksam werden. Die Herausforderung sei: Das Schulsystem und die diagnostischen Prozesse so anzupassen, dass sie den Bedürfnissen der Kinder besser gerecht werden.

Gemäss Kurt Albermann, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) in Winterthur, ist auch die Politik gefordert: «Es braucht mehr finanzielle Unterstützung. Zudem gibt es zu wenig Fachkräfte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dieser Bereich in der Medizin ist schlecht bezahlt.»

Die Gesundheit der Jüngsten sollte uns allen ein Anliegen sein, denn die Kinder von heute sind die Gesellschaft von morgen.


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