Interview mit Kinder- und Jugendpsychiater Gregor Berger
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So gehts der Schweizer Jugend:Interview mit Kinder- und Jugendpsychiater Gregor Berger

Interview mit Kinder- und Jugendpsychiater Gregor Berger
«Die sozialen Medien sind ein Experiment mit der psychischen Gesundheit unserer Kinder»

Der Anteil Jugendlicher mit psychischen Erkrankungen steigt seit Jahren an. Wegen Covid kam es zu einem noch stärkeren Anstieg. Gregor Berger, Kinder- und Jugendpsychiater, sagt: «Wir erreichen die Jugendlichen nicht» – und fragt sich, woran das liegt.
Publiziert: 16.10.2021 um 19:08 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2021 um 23:31 Uhr
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«Das Wegfallen von normalen Strukturen macht den Jugendlichen am meisten Mühe», sagt Kinder- und Jugendpsychiater Gregor Berger. So entwickeln sich viele Verhaltensmuster, die krankheitsfördernd sind.
Foto: Anja Wurm
Interview: Alexandra Fitz

Herr Berger, wie geht es den Jugendlichen in der Schweiz?
Gregor Berger:
Der Anteil Jugendlicher mit psychischen Problemen ist in den vergangenen zehn Jahren angestiegen. Durch Covid kam es nun zu einem noch stärkeren Anstieg. Letztes Jahr haben die Notfälle bei uns um über 20 Prozent auf 1007 Untersuchungen zugenommen.

Ist Covid immer ein Thema bei diesen Konsultationen?
Interessant war, dass wir uns in der ersten Welle, also im März und April 2020, auf einen grossen Andrang vorbereiteten. Es passierte das Gegenteil: Es gab einen Einbruch. Doch mit den Lockerungen folgte eine unerwartet grosse psychiatrische Welle. Wir hatten zunehmend besorgte Eltern, Jugendliche und Lehrer. Wir mussten sogar eine zusätzliche Person einstellen.

Wie erklären Sie sich das?
Der massive Anstieg der Notfallkontakte seit Juni 2020 zeigt, dass die Schutzmassnahmen einen Teil der Jugendlichen überforderten. Etwa ein Drittel der Schüler hatte nach den Lockerungsmassnahmen Schwierigkeiten mit dem Wiedereinstieg, etwa zehn Prozent erreichten das Vorpandemie-Niveau nicht mehr. Dieses Phänomen dauert jetzt seit über einem Jahr an, obwohl es keine Schulschliessungen mehr gab.

Wer ist besonders gefährdet?
Eine grosse Gruppe hat Mühe, den Tag selber zu strukturieren. Sie war überfordert, merkte, dass sie nach dem Lockdown Lücken hatte. Schliesslich gab es eine Gruppe, die auch unter den häuslichen Umständen sowie den Sorgen der Eltern litt.

Und jetzt nach den Ferien?
Auch dieses Jahr erleben wir nach den Sommerferien einen Anstieg der Notfallkontakte. Vor allem bei Jugendlichen in der Oberstufe, bei denen es um die Berufsfindung geht. Einige konnten wegen Corona keine Praktika oder Schnupperlehren machen. Besonders diejenigen, die schon eine psychische Vorbelastung hatten, scheinen noch mehr Mühe zu haben – insbesondere wenn es aus dem familiären Kontext nicht genügend Unterstützung gibt. Sie reagieren mit unterschiedlichen psychiatrischen Symptomen.

Mit welchen?
Die Jugendlichen klagen über Stresssymptome, Zukunftsängste, Perspektivlosigkeit,
Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen und übermässige Reizbarkeit. Besorgniserregend ist, dass der Anteil der Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten, Suizidgedanken und Suizidhandlungen zuzunehmen scheint.

Was macht den Jugendlichen am meisten zu schaffen?
Das Wegfallen von Strukturen und sozialen Beziehungen. So konnten sich viele Verhaltensmuster entwickeln, die krankheitsfördernd sind, wie etwa zu wenig Schlaf. Während des ersten Lockdowns schliefen die Jugendlichen mehr als während der Schule. Wieder zurückzukehren zum alten Schlafrhythmus fiel einigen jedoch schwer. Wir machten eine Umfrage, bei der wir das Medienverhalten vor und während der Pandemie untersuchten. Fazit: Der durchschnittliche Medienkonsum kletterte von vier auf sechs Stunden. Wir haben Jugendliche, die bis zu zwölf Stunden täglich in den sozialen Medien verbringen. Da kann man mit 45 Minuten Psychotherapie pro Woche nicht viel bewirken.

Dann ist also der erhöhte Medienkonsum der Hauptgrund?
Der Medienkonsum ist ein Symptom, das sich zu einem Problem entwickeln kann.
Die Pandemie hat den Tagesablauf verändert. Viele konnten ihre Hobbys nicht mehr wahrnehmen. Kurz gesagt: weniger andere Aktivitäten, mehr Medienkonsum.

Was sind die Folgen?
Viele fingen an, nur noch in der virtuellen Welt zu leben, und entwickelten zunehmend Ängste, den Anforderungen in der realen Welt nicht mehr gerecht zu werden. Es erstaunte mich nicht, dass mehr Mädchen als Buben betroffen sind.

Warum?
Das kann ich nicht abschliessend beantworten. Aber ich glaube, Mädchen sind noch mehr als Jungs in sozialen Netzwerken unterwegs. Das verändert die Selbstwahrnehmung. Am meisten untersucht ist das bei den Essstörungen.

Es geht um das Selbstbild, das soziale Medien beeinflussen?
Genau. Das Selbstbild wird nicht mehr an realen Erfahrungen gemessen, sondern durch eine völlig verzerrte Wirklichkeit geprägt, den superschlanken, perfekt geschminkten, gestylten, erfolgreichen, immer gut gelaunten In-Girls. Wenn man rausgeht und Hobbys hat, lernen Jugendliche durch das Zusammensein mit anderen Menschen. In einem Chor, einem Sportverein oder der Pfadi erleben sie eine ganz andere Form von Geborgenheit, Selbstwirksamkeit und Zuwendung. Echte Gemeinsamkeit baut in der Regel Stress ab, in der virtuellen Welt ist dies häufig umgekehrt.

Vereine haben generell nicht mehr den Stellenwert von früher.
Es macht mir grosse Sorgen, dass Sport- oder Musikvereine oder Aktivitäten wie Pfadi zunehmend leistungsorientiert sind. Wir sind eine Gesellschaft von Extremen. Ich habe vier Kinder. Das eine ist extrem leistungsorientiert, das andere scheut den Leistungsvergleich, ist aber auch glücklich. Man muss Kinder so nehmen, wie sie sind, und sie begleiten und nicht in ein Schema pressen. Wir müssen wieder zurückfinden auf einen Mittelweg.

Feuerwehrmann der Seele

Gregor Berger, Jahrgang 1966, studierte in Basel Medizin. Nach Stationen in Bern, Melbourne (Australien) und Winterthur ZH leitet er seit 2014 das Krisen-, Abklärungs-, Notfall- und Triagezentrum an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Berger bezeichnet sich und sein Team als Feuerwehrmänner der Seele. «Wir löschen das Feuer, können das Haus aber nicht wieder aufbauen, das machen dann die Therapeuten», erklärt er seine Arbeit in der Notfallpsychiatrie. Berger lebt mit seiner Frau und vier Kindern im Kanton St. Gallen. 

Anja Wurm

Gregor Berger, Jahrgang 1966, studierte in Basel Medizin. Nach Stationen in Bern, Melbourne (Australien) und Winterthur ZH leitet er seit 2014 das Krisen-, Abklärungs-, Notfall- und Triagezentrum an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Berger bezeichnet sich und sein Team als Feuerwehrmänner der Seele. «Wir löschen das Feuer, können das Haus aber nicht wieder aufbauen, das machen dann die Therapeuten», erklärt er seine Arbeit in der Notfallpsychiatrie. Berger lebt mit seiner Frau und vier Kindern im Kanton St. Gallen. 

Was tun gegen überbordenden Medienkonsum?
Wir als Gesellschaft haben uns noch nicht ausreichend Gedanken gemacht über die Auswirkungen der sozialen Medien. Beim Spielcasino etwa wird kein Minderjähriger reingelassen, bei den Medien im Kinderzimmer hingegen gibt es keine Regeln. Da gibt es Nachholbedarf auf einer gesellschaftlich-politischen Ebene. Die sozialen Medien sind wie ein globales Experiment mit der psychischen Gesundheit unserer Kinder.

Was können Eltern machen?
Es ist wichtig, dass Eltern hinschauen, den Dialog nicht scheuen. Ich glaube, dass es genauso falsch ist, keine Grenzen zu setzen, wie alles zu reglementieren.

Und die Schulen?
Wir bräuchten ein neues Fach: Gesundheit. Da gehört alles rein – von der Sexualprävention über den Umgang mit Alkohol und Drogen bis hin zu Medienkompetenz. Die Schüler sollten sich während der ganzen Schulzeit zwei, drei Stunden in der Woche mit diesen Themen auseinandersetzen. Das Fach muss den gleichen Stellenwert wie Mathe und Deutsch haben.

Thematisiert wurde während der Pandemie auch immer wieder die Zunahme von Suiziden.
Ob Covid einen Einfluss auf die Suizidrate hat, werden wir wohl erst ein bis zwei Jahre nach der Pandemie wissen. Die Suizidrate bei Erwachsenen in der Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise rückläufig gewesen. Wir haben etwas mehr als 1000 Suizide pro Jahr (ohne Berücksichtigung der assistierten Suizide). Bei Kindern und Jugendlichen sind die Zahlen jedoch relativ konstant. In Amerika zeigen sich sogar Trends einer Zunahme, wobei besonders Mädchen betroffen zu sein scheinen.

Hier findest du Hilfe

Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in Krisen und für ihr Umfeld da:

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in Krisen und für ihr Umfeld da:

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

Wie erklären Sie sich den Rückgang bei Erwachsenen?
Einerseits sind die Schusswaffensuizide zurückgegangen, weil keine Munition mehr nach Hause abgegeben wird und Armeewaffen vermehrt zurückgegeben werden. Andererseits wurden immer mehr präventive Massnahmen getroffen, wie bauliche Massnahmen bei Suizid-Hotspots von den SBB, den Kantonen oder mit Kirchengemeinden.

Warum hilft das bei den Jungen nicht?
Diese Frage stellen wir uns auch. Jugendliche handeln häufig impulsiv, haben weniger Erfahrungen damit, dass Krisen vorbeigehen, und tendieren dazu, Erlebnisse viel absoluter zu sehen. Der Umstand, dass es bei den Erwachsenen einen Rückgang gibt und bei den Jugendlichen nicht, stimmt mich nachdenklich, besonders weil der Suizid bei Teenagern die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen ist. Warum erreichen wir die Jugendlichen weniger? Woher kommt das? Warum kommen Jugendliche an einen Punkt, wo sie nicht mehr leben wollen? In einem Land, wo alles vorhanden ist.

Gibt es bei Suizidversuchen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen?
Ich gehe davon aus, dass die Suizidversuche besonders bei Mädchen zugenommen haben. Dafür spricht, dass die Zahl der Notfallkonsultationen in allen grösseren Kantonen über die letzten Jahre deutlich gestiegen ist. Mädchen machen häufiger Suizidversuche als Buben. Es ist immer noch nicht klar, woher das kommt. Ich glaube, dass Mädchen in dieser Lebensphase mehr von der Meinung ihrer Peers, also Gleichaltrigen, abhängig sind. Wenn sie dann Ausgrenzung erleben, reagieren sie psychisch viel stärker darauf als viele Jungs.

Sind Suizidgedanken in einem gewissen Alter so etwas wie normal?
Bei Jugendlichen sind Suizidgedanken, Selbstverletzungen und sogar Suizidhandlungen relativ häufig. So zeigte eine Zürcher Schülerbefragung der 2. Oberstufe, dass fast jedes vierte Mädchen und jeder fünfte Bub im letzten Jahr Suizidgedanken angab und 7,5 Prozent der Mädchen sogar versuchten, sich das Leben zu nehmen. Suzidgedanken sind also nichts Ausserordentliches, sie gehören zur Entwicklung. Es ist ein Teil des Erwachsenwerdens. Aber junge Menschen müssen lernen, mit negativen Gefühlen umzugehen. Früher hat man das vielleicht in der Kirche gemacht, heute muss man einen eigenen Weg finden.

Neue Therapie nach Suizidversuch

Die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) haben eine Kurztherapie für Menschen nach einem Suizidversuch entwickelt, weil diese eine Risikogruppe sind.
In der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich hat man diese den Bedürfnissen der Jugendlichen angepasst. Der Patient erzählt, warum es zum Suizidversuch kam, dies wird auf Video aufgenommen. Gemeinsam schaut man sich die Aufnahme an und versucht zu verstehen, wo und wie der Patient in einer Art Tunnel die Suizidhandlung durchführte (Ärzte sprechen vom Suizidmodus). Es wird dann ein Krisenplan entwickelt, der der Familie vorgestellt wird. Das Ziel ist, dass der Jugendliche es schafft, die Warnzeichen zu erkennen, und andere Wege aus der Krise findet. Berger und sein Team bieten diese Therapie seit Juli an. Ab 2022 werden sie zwölf weitere Kantone anwenden.

In der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich wird eine neue Kurztherapie angeboten für Jugendliche nach einem Suizidversuch.
Neva Vogel

Die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) haben eine Kurztherapie für Menschen nach einem Suizidversuch entwickelt, weil diese eine Risikogruppe sind.
In der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich hat man diese den Bedürfnissen der Jugendlichen angepasst. Der Patient erzählt, warum es zum Suizidversuch kam, dies wird auf Video aufgenommen. Gemeinsam schaut man sich die Aufnahme an und versucht zu verstehen, wo und wie der Patient in einer Art Tunnel die Suizidhandlung durchführte (Ärzte sprechen vom Suizidmodus). Es wird dann ein Krisenplan entwickelt, der der Familie vorgestellt wird. Das Ziel ist, dass der Jugendliche es schafft, die Warnzeichen zu erkennen, und andere Wege aus der Krise findet. Berger und sein Team bieten diese Therapie seit Juli an. Ab 2022 werden sie zwölf weitere Kantone anwenden.


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