Die Dominanz der Pandemie gilt auch, wenn man das neue Führungsduo der SP im Bundeshaus zum ersten grossen Bilanzgespräch trifft. Die Angst mancher Genossen, dass nun Juso-Politik regiert, war unbegründet: Mattea Meyer und Cédric Wermuth führen die Partei gerade durch historische Zeiten. Die Co-Präsidenten wollen eine Lehrstellengarantie, zerzausen die bürgerliche Corona-Politik und finden lobende Worte für Sebastian Kurz.
SonntagsBlick: In Ihrem neuen Positions-papier zur Covid-Krise erklären Sie die Schweizer Corona-Politik für gescheitert. Sind damit auch Ihre beiden Bundes-räte Alain Berset und Simonetta Sommaruga angesprochen?
Meyer: Definitiv nicht. Wir wissen alle, wie der Bundesrat zusammengesetzt ist. Es ist ja interessant: Vor einem Jahr haben die bürgerlichen Parteien vehement dafür gekämpft, dass die Mehrheit von SVP und FDP im Bundesrat erhalten bleibt. Seither haben sie das Jahr vor allem damit verbracht, die Verantwortung abzuschieben. Obwohl sie eine Mehrheit im Bundesrat haben.
Wenn viele sterben, das Contact Tracing und anderes nicht funktioniert, kann man doch nicht einfach auf die bürgerliche Mehrheit verweisen. Das Gesundheitsdepartement führt ein SP-Mann.
Wermuth: Für das Contact Tracing sind die 26 Kantone verantwortlich. Was Alain Berset betrifft: All die Indiskretionen zeigen, wie systematisch versucht wurde, seine Politik zu sabotieren, bevor er überhaupt Beschlüsse fassen konnte. Es ist klar, woher das kommt.
Sie meinen die SVP?
Wermuth: SVP-Faktionschef Thomas Aeschi veröffentlicht inzwischen Abstimmungsresultate direkt aus den Regierungssitzungen. So kann keine Kollegialregierung arbeiten.
Meyer: Im Parlament spielt sich dasselbe ab. Im Dezember beschloss die Gesundheitskommission mitten in der zweiten Welle, sich gegen jegliche weiteren gesundheitliche Massnahmen zu stellen.
Wermuth: Noch Anfang dieser Woche hat sich die Wirtschaftskommission dagegen ausgesprochen, dass an den Arbeitsplätzen mehr Massnahmen ergriffen werden, um die Menschen zu schützen. Das ist doch grotesk.
Meyer: Was mich schockiert, ist diese Ignoranz gegenüber gesundheitlichen und ökonomischen Fakten. Aber auch gegenüber den Hilferufen der Angestellten im Gesundheitswesen, in den Restaurants und so weiter. Aber selbstverständlich haben auch das BAG und Alain Berset Fehler gemacht. Die Maskendiskussion zum Beispiel hat das Vertrauen sicher nicht verstärkt.
Viele sehen es halt anders als Sie: Durch das Herunterfahren des Landes werden Existenzen zerstört. Diesen Leuten muss man helfen.
Meyer: Das sagen wir doch seit Beginn. Aber Menschenleben retten und Jobs retten ist kein Widerspruch. Die Pandemiebekämpfung ist die bestmögliche Wirtschaftshilfe.
1987 in Basel geboren, wuchs Mattea Meyer in Winterthur ZH auf. 2009 wurde sie Vizepräsidentin der Juso, 2011 Zürcher Kantonsrätin. 2015 schaffte sie auf Anhieb den Sprung in den Nationalrat. Seit 17. Oktober ist sie Co-Präsidentin der SP Schweiz. Meyer studierte an der Uni Zürich Geschichte. Sie lebt mit Partner und Tochter in Winterthur.
1987 in Basel geboren, wuchs Mattea Meyer in Winterthur ZH auf. 2009 wurde sie Vizepräsidentin der Juso, 2011 Zürcher Kantonsrätin. 2015 schaffte sie auf Anhieb den Sprung in den Nationalrat. Seit 17. Oktober ist sie Co-Präsidentin der SP Schweiz. Meyer studierte an der Uni Zürich Geschichte. Sie lebt mit Partner und Tochter in Winterthur.
Hätte der Bundesrat am Mittwoch noch weiter gehen müssen?
Wermuth: Ja, auf verschiedenen Ebenen. Am Mittwoch anerkannte der Bundesrat endlich, dass man in viel grösseren Dimensionen etwas machen muss. Aber das reicht noch nicht. Bei der Härtefallhilfe hat der Bundesrat endlich reagiert. Aber es geht längst nicht mehr um Härtefälle. Der Staat muss die Leute entschädigen, wenn er ihnen verbietet, ihre Arbeit zu machen, auch wenn er das pandemiebedingt tut. Den Menschen steht dieser Anspruch verfassungsmässig zu. Wenn Bürgerliche von «Strukturbereinigung» reden, ist das nur zynisch. Diese Haltung schockiert mich.
Meyer: Ich hatte mit vielen aus der Reise-, aus der Veranstaltungs- und aus andern Branchen Kontakt, die vor dem Nichts stehen. Dann kommt Finanzminister Ueli Maurer im Oktober und erklärt, es gebe jetzt kein Geld mehr. Was für eine Wirtschaftsferne dieser angeblich wirtschaftsnahen Kreise.
Maurer redet von «kleinen Dingen, die den Leuten auch wehtun», aber den Blick auf das grosse Ganze versperren.
Meyer: Das ist wahnsinnig empathie- und respektlos für eine Führungsfigur. Und sehr entlarvend: Maurer sagt damit: Man muss die Kleinen nicht retten.
Es ist doch die legitime Haltung eines konservativen Finanzministers, der auf das Budget achtet.
Meyer: Es ist Maurers Haltung, die aber selbst der Haltung des Internationalen Währungsfonds – gewiss keiner linken Organisation – und dem Gros der Ökonomen widerspricht. Sie alle sagen: Die Strukturen müssen jetzt erhalten werden, damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommt. Sind die Firmen in Konkurs, gibt es auch keine Jobs mehr, auf die sich Erwerbslose bewerben können.
Wermuth: Es ist finanzpolitisch verantwortungslos. Das Elend wird einfach an die Sozialhilfe und die Gemeinden abgeschoben. Das wird viel teurer, als die Strukturen zu erhalten.
Sie finden das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco, die Bundesratsmehrheit und den Föderalismus ein Problem. Was ist Ihre Lösung?
Wermuth: Der Föderalismus per se ist nicht das Problem. Aber der politische Wille fehlt. Wirtschaftsminister Parmelin sagt: «Wir waren alle überrascht.» Dabei wusste man seit dem August, dass die jetzige Entwicklung ein mögliches Szenario sein wird! Da hat man in einer Dimension versagt, die eigentlich für dieses Bundesratsamt disqualifiziert.
Wen meinen Sie?
Wermuth: Verantwortlich für diese erneute Feuerwehrübung sind die beiden Bundesräte Guy Parmelin und Ueli Maurer. Wir versuchten noch im Dezember im Parlament ein System auf die Beine zu stellen, für den Fall, dass sich diese wirtschaftliche Not verschärft. Leider vergeblich.
Der Aargauer Cédric Wermuth (35) stieg 1999 beiden Jungsozialisten ein, deren Präsident er 2008 wurde. 2009 zog er ins Badener Stadtparlament ein, 2011 in den Nationalrat. Seit dem 17. Oktober 2020 ist er Co-Präsident der SP Schweiz. Er studierte Politologie und arbeitet für eine Kampagnenagentur. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt in Zofingen AG.
Der Aargauer Cédric Wermuth (35) stieg 1999 beiden Jungsozialisten ein, deren Präsident er 2008 wurde. 2009 zog er ins Badener Stadtparlament ein, 2011 in den Nationalrat. Seit dem 17. Oktober 2020 ist er Co-Präsident der SP Schweiz. Er studierte Politologie und arbeitet für eine Kampagnenagentur. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt in Zofingen AG.
Die Frage bleibt, wer das finanzieren soll – der Bund? Die SNB? Die Krisengewinner?
Meyer: Die erste Frage ist: Wie schaffen wir es, dass die Firmen nicht in Konkurs gehen? Mit der Kurzarbeit sind die Lohnkosten gedeckt. Aber dann bleiben Fixkosten wie Miete, Pensionskassenbeiträge, Versicherungsleistungen und so weiter. Die müssen gedeckt werden.
Wie bezahlen wir das?
Meyer: Die Schweiz ist im internationalen Vergleich knausrig, trotz rekordtiefer Schulden. Wir können die laufenden Kosten mittels der öffentlichen Verschuldung finanzieren. Um die Wirtschaft mit sinnvollen Massnahmen – etwa im Bereich Kinderbetreuung oder ökologischer Umbau – anzukurbeln, braucht es eine Krisengewinnsteuer für jene, die jetzt Profit gemacht haben, wie Immobilienfirmen oder Pharmakonzerne.
Wermuth: Übrigens hat der Bundesrat noch vor kurzem Milliarden Steuersubventionen an Versicherungen verschenken wollen, da war es nie ein Thema, dass wir uns das nicht leisten könnten. Das ist es, was die Leute aufregt. In einer solchen Krise muss der Bundesrat sagen: «Wir stehen bis zum letzten Tag an eurer Seite und tun alles, um eure Einkommen und Arbeitsplätze zu sichern.» Und dann muss er das auch tun. Das erwarte ich als Bürger, nicht mal als Politiker.
Noch einmal fürs Protokoll: Der Bundespräsident und der Finanzminister haben sich in dieser Pandemie als Regierungsmitglieder disqualifiziert?
Meyer: Auf jeden Fall. Note ungenügend.
Was ist die Konsequenz?
Wermuth: Kurzfristig: Besser werden. Und 2023 werden wir sehen. Jetzt geht es darum, dass wir anständig aus dieser Krise kommen.
Wäre nicht das Zusammenstehen das Gebot der Stunde? Stattdessen haben Sie Ende Jahr auf den Mann gespielt und bürgerlichen Parlamentariern vorgeworfen, Tote in Kauf zu nehmen. Jetzt stellen Sie zwei Regierungsmitglieder als nicht wiederwählbar hin.
Wermuth: Ich gebe zu, dass auch bei uns die Emotionen hochgegangen sind. Das kann man alles kritisieren, vielleicht würden wir im Nachhinein einiges anders formulieren. Aber Tausende sind gestorben, Zehntausende Familie mussten leiden. Die Schweiz hat eine Übersterblichkeit und im Bundeshaus lautete der zynische Tenor: Tja, das Leben ist hart. Das Gesundheitspersonal schreit über Monate nach Hilfe, und hier sagt man: Das ist die Zuständigkeit der Kantone, sorry. Sebastian Kurz in Österreich und Angela Merkel in Deutschland sind konservative Politiker. Aber sie reagieren viel entschlossener, anders als die Bürgerlichen in der Schweiz.
Meyer: Das Ziel, möglichst viele Menschenleben zu retten, möglichst viele Jobs zu retten, müsste alle Parteien einen. Dann setzt das politische Aushandeln ein. Doch manche Parlamentarier haben sich von einer konstruktiven Mitarbeit verabschiedet.
Wermuth: Woran scheitern wir? Es ist wohl ziemlich banal: An der Ideologie. Für die bürgerliche Mehrheit darf es nicht sein, dass der freie Markt die Probleme nicht löst, es darf nicht sein, dass Eigenverantwortung nicht die Antwort auf alles und jedes ist. Kurz: Es darf nicht sein, dass die Linken recht haben. Das war in gewissen Momenten wichtiger als die Lösung der Probleme der Menschen.
Das sind doch Klischees: Die Zyniker sitzen überall, ausser in der SP, und der Einfluss der Wirtschaftslobbys ist zu gross.
Meyer: (Lacht) Die sind ja auf unserer Seite! Wir besprechen viele unserer Anträge mit den betroffenen Branchen. Und stossen dann im Parlament auf taube Ohren.
Also haben Menschenleben im Parlament einen zu geringen Stellenwert?
Wermuth: Es gibt die Zyniker. Aber die sind nicht in der Mehrheit. Wichtiger sind die ideologischen Barrieren, die es im Parlament nicht möglich machen, angemessen auf die Krise zu reagieren.
Sie teilen recht aus angesichts der Wahlniederlage der SP. Wie soll sich die SP unter Ihnen erfolgreich positionieren?
Wermuth: Wir positionieren uns nicht, wir verkaufen keine Schokolade.
Natürlich müssen Sie Ihre Politik verkaufen.
Wermuth: Es gibt Parteien, die ändern ihren Namen wegen irgendeiner Marktanalyse. Für die Kleinen Leute einzutreten, die keine Lobby haben, das ist unsere Überzeugung. Swiss-Managern müssen wir nicht auch noch beispringen.
Meyer: Die Menschen in den Spitälern und Pflegeheimen arbeiten still vor sich hin, bis zur Erschöpfung, bis zum Burn-out. Das dürfen wir nicht einfach ignorieren – bald steht die Pflege-Initiative an. Wer jetzt diese Vorlage ablehnt und nicht Hand bietet für bessere Arbeitsbedingungen, verpasst dem Gesundheitspersonal, einmal mehr vor allem Frauen, den nächsten Fusstritt.
Wermuth: Und es geht jetzt darum, diese Krise zu meistern, ohne dass weitere Menschen in die Armut abrutschen.
Wie meinen Sie das?
Wermuth: Viele Personen mit tiefen Einkommen sind in Kurzarbeit, verdienen also seit Monaten nur noch 80 Prozent ihres Lohns. Gegen diesen massiven Einbruch müssen wir etwas unternehmen. Hinzu kommen die erschreckenden Arbeitslosenzahlen bei älteren und jüngeren Menschen. Da droht eine Generation ohne Zukunftsperspektive.
Lassen Sie uns raten: der Staat soll zahlen?
Wermuth: Der Staat soll seine Verantwortung wahrnehmen. Natürlich wird das auch etwas kosten.
Meyer: Wer keine Lehrstelle findet oder nach einer Lehre keinen Anschluss, fällt durch die Maschen. Diese Ängste verschärfen die Krise für die Betroffenen noch zusätzlich. Weshalb wir als SP vom Staat eine Jugendzukunftsgarantie fordern. Kein Jugendlicher darf jetzt durch die Maschen fallen. Der Staat muss drei Dinge tun: Er muss selber Lehrstellen anbieten und Weiterbeschäftigung garantieren, den Service public zum Beispiel in der Pflege ausbauen, Firmen unterstützen und Stipendien für Weiterbildungen bereitstellen. Gerade Branchen, die von der Krise profitieren, müssen mithelfen.
Vor Ihrer Wahl sorgten sich manche, dass an der Parteispitze Juso-Politik Einzug hält. Corona hat Sie daran gehindert.
Wermuth: Wir fühlen uns heute von der Breite der Partei sehr getragen.
Sie beide wirken wahnsinnig harmonisch. Für Journalisten furchtbar.
Meyer: Cédric und ich machen seit zehn Jahren gemeinsam Politik, was erwarten Sie da? Darum war ja von Anfang an klar, dass wir dieses Amt nur gemeinsam übernehmen wollten. Müssten wir alles genau absprechen, ginge es nicht.
Wie sieht Ihre Arbeitsteilung aus?
Wermuth: Wir haben gewisse Bereiche aufgeteilt, die sich auch aus unserer bisherigen Kommissionsarbeit ergeben. Genauso gegen innen. Die SP hat viele Unterorganisationen. Und wir haben je fixe Familientage, da schauen wir peinlich genau darauf.
Meyer: Weil wir einander sehr gut verstehen, haben wir einen Boden, der es erlaubt, dass wir nicht immer alles voneinander wissen müssen.
Sie sind bald 100 Tage im Amt. Wann sagen Sie: Wir sind gescheitert?
Wermuth: Wir treten an, weil es in dieser Gesellschaft fundamentale Änderungen braucht: Mehr Solidarität, mehr Gemeinsinn, mehr Ökologie, weniger Profitorientierung. Diesen Anspruch verbinden wir mit der konkreten politischen Arbeit an Kompromissen. Die letzten Abstimmungen zeigen, dass es möglich ist.
Die SP hat 2019 Wähleranteile verloren.
Meyer: Entscheidend ist, dass wir unsere Anliegen durchbringen. Wir wollen verändern, das geht aber nur, wenn sich die Menschen engagieren. Wird die SP zu einem zerstrittenen Haufen, dann wären wir gescheitert. Das glaube ich aber nicht. Bis jetzt spüren wir viel Rückhalt. Das fühlt sich sehr gut an.